In Kajak oder Kanu entdeckt man die Stadt aus ganz neuer Perspektive. Besonders dann, wenn das Boot Marke Eigenbau ist
Eben noch mitten im Gewühl, im nächsten Moment wie auf einem anderen Stern: Die Geräuschkulisse schwindet, als hätte jemand den Lautstärkeregler heruntergedreht. Motorlärm, Kindergeschrei, Fahrradklingel – davon ist nichts mehr zu hören, stattdessen leises Plätschern der Wellen, der Wind und das Geschnatter junger Enten.
Nikola Raspopovic paddelt geruhsam über das Wasser. Vor wenigen Minuten hatten wir mit vereinten Kräften zwei Boote über ein Gitter gewuchtet, sind ein paar Stufen hinabgestiegen und haben vom Ufer des Landwehrkanals abgelegt. Dies ist natürlich immer noch Kreuzberg, wir haben den Planeten nicht gewechselt, gleichwohl: Irgendwie fühlt es sich so an. Elisabeth Schuster schaut sich nach ihrem Kompagnon um. Beide zusammen betreiben in Berlin ein ungewöhnliches Geschäft – den Selbstzusammenbau von Kanus und Kajaks durch ihre späteren Besitzer in Workshops. „Urban Indian“ – Stadtindianer – heißt das Konzept und das Unternehmen, das dahintersteckt: Handwerkliche Arbeit und viel Holz sind die Zutaten für einen kleinen Lebenstraum auf dem Wasser, den der gebürtige Serbe und die Bayerin vermitteln.
Bei der Ausfahrt den Blick auf Neues lenken
„Was wir möchten, kann man nirgendwo besser erklären als bei einer kleinen Ausfahrt durch die Innenstadt“, sagt Raspopovic. Unabhängigkeit einerseits und eine besondere Beziehung zum eigenen Boot anderseits sollen Sehnsucht und Wunsch nach Abenteuerlust und Entdeckerdrang erfüllen. Mehr noch: Eine ungewöhnliche Perspektive einnehmen, Dinge auf sich anders wirken lassen, während man gemächlich an der Stadt vorüberzieht, sowie den Blick auf Neues lenken – das ist es, was die beiden für sich selbst als auch ihre Workshopteilnehmer erreichen wollen.
Wir paddeln den Landwehrkanal entlang, unterwegs treffen wir auf andere Paddler, die sich ebenso eine Auszeit gönnen. Schnell klönt man miteinander, wohin man wolle, woher man komme – nur ein paar Meter links oder rechts auf den Straßen oder Gehwegen, versteckt hinter Bäumen, würde man so nie miteinander ins Gespräch kommen. Kaum ist man jedoch auf dem Wasser, ist es mit der Sprachlosigkeit vorbei. Immer wieder Thema: Was es mit den besonderen Kanus auf sich habe, mit denen wir da unterwegs seien. Auch jeder Laie erkennt schließlich sofort: Im Laden kann man diese Kanus nicht kaufen. Sie haben keine Markennamen, an der einen oder anderen Stelle wirken sie ein wenig roh und überhaupt sehen sie nicht nach einem Hightech-Produkt aus.
Kein Wunder: Für seine Boote nimmt Nikola Raspopovic vor allem ökologische Materialien wie Holz, Baumwolle, umweltfreundliche Farbe und Naturöle. Klassische Bootsbaumaterialien wie Epoxidharz, Fiberglas, PVC oder Nylon vermeidet er. Insgesamt repräsentiere der Bau eines Bootes für ihn einen handwerklichen Prozess. Bei Kanus gibt es dabei die verschiedensten Konstruktionstypen – etwa den Typ des „Skin on frame“. Das bedeutet, dass ein Bootsskelett mit einer Haut bespannt wird. Raspopovic nimmt hierfür Baumwolle. Es handelt sich dabei um eine alte Technik, die früher etwa in Grönland von den Eskimos zum Bau ihrer Kajaks verwendet wurde. Diese Art der Konstruktion gibt Raspopovics Workshopteilnehmern die Möglichkeit, verschiedene Materialien miteinander zu kombinieren.
Zwölf Kanu- und Kajakmodelle hat der Serbe mittlerweile für sich selbst gefertigt, insgesamt sind in seinen Workshops über 100 Boote entstanden. Dabei hat Raspopovic seine Technik immer weiter verfeinert. So hat er sich eigens eine Unterkonstruktion ausgedacht, um zu Baubeginn des Rumpfes zunächst die langen Seitenteile in Form zu bringen. Dabei verfolgt der 43-Jährige auch ein wenig einen philosophischen Ansatz: „Ich glaube, dass es in der heutigen Gesellschaft, in der alles Wissen mehr und mehr zerstückelt vorliegt, immer wichtiger wird, handwerklich tätig zu sein, um grundsätzliche Fähigkeiten zu praktischem Denken und Materialverständnis lebendig zu halten“, erklärt er.
Das Bauen des Kanus beginnt daher denn auch mit Rohmaterialien, die langsam geformt und zusammengefügt werden. Zwar bereitet Raspopovic die schwierigsten Teile des Bootes, die Spanten, die dem Kanu letztlich die Form geben, bereits vor den Seminaren vor. Anschließend müssen die Teilnehmer sie jedoch zum Beispiel selbst an den richtigen Stellen des Grundgerüstes montieren. Auch müssen sie Aussparungen vornehmen und Löcher bohren. „Jeder kann hier mitbauen – auch Kinder“, so der Workshopleiter. Fünf bis sieben Tage dauern die Seminare in der Regel, bei denen die Teilnehmer während des Bauprozesses – und weil sie jeden Schritt selbst erledigen – eine Beziehung zu ihrem neuen Boot aufbauen. „Viele bemalen ihre Kanus und Kajaks dann noch individuell, sodass sie anschließend sagen können: So ein Boot hat sonst niemand.“
Auf unserer Fahrt mit den Booten Marke Eigenbau geht es unter diversen Brücken hindurch, wir fahren zügig, aber nicht gehetzt. Während der zweistündigen Ausfahrt kommt uns kein Boot entgegen. Es ist kein Vergleich zu dem, was sonst auf den Berliner Gewässern los ist. Fast haben wir das Gefühl, als gehöre der Kanal uns ganz allein. Raspopovic trifft auf eine Seminarteilnehmerin von vor drei Jahren in ihrem Boot. Wie sich denn ihr Boot so mache? Auf ein gekauftes Boot würde sie nicht mehr zurückkehren wollen. Schließlich erreichen wir das so genannte Dreiländereck, an dem sich Landwehrkanal und Neuköllner Schifffahrtskanal treffen. Wir entscheiden uns weiter für den Landwehrkanal, schnell verengt er sich wieder, und kaum ist man um die nächste Ecke herum, hat man das Gefühl, wieder ganz weit zu draußen zu sein. Der angrenzende Görlitzer Park schluckt auch die letzten Geräusche der Stadt. „Allein ist man hier allerdings nie“, sagt Elisabeth Schuster. „Hasen, Füchse, Reiher – alles haben wir schon gesehen.“ Letztlich erreichen wir das Wehr kurz vor dem Freischwimmer in Kreuzberg. Dahinter folgt dann die Spree. Dennoch ist hier jedoch erst einmal Schluss – wie kehren um. Automatisch sucht Raspopovic dennoch das Ufer ab, wo er gegebenenfalls sein Boot aus dem Wasser nehmen und über die Absperrungen wuchten könnte.
Wasserwandern mitganz neuer Bedeutung
Für die Teilnehmer seiner Workshops wie für ihn selbst habe das Wort „Wasserwandern“ durch den Selbstbau eine ganz neue Bedeutung gewonnen. Denn nicht zuletzt: Nicht nur Berlin, auch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind jederzeit einen Ausflug mit dem Kanu wert. Brandenburg ist schließlich eine der wasserreichsten Regionen Europas. Rund 6500 Kilometer der Fließgewässer sind dort mit Kanus oder Kajaks befahrbar. Gibt er nicht gerade ein Seminar, ist auch Nikola Raspopovic dort häufig unterwegs.