Vergessene Tage: Am 5. und 6. November 1923 zog der Mob prügelnd und plündernd durch die Grenadierstraße. Zehn Jahre vor Hitlers Machtergreifung wurden Juden geschlagen, beraubt und nackt durch Berlin getrieben

Am Freitagnachmittag ist die Almstadtstraße eine Straße wie jede andere. Wie überall in der Berlin-Mitte gibt es zu wenige Parkplätze, vielleicht auch zu viele Autos. Die Fußgänger sind in Eile, haben ihren Frieden gemacht mit der Woche und wollen heim. Das Trottoir lädt kaum zum Flanieren ein. Die Schaufenster haben Jalousien oder Zettel auf denen "Zu vermieten" steht. Die Häuser sind saniert oder alte Neubauten, die noch aus DDR-Zeiten stammen. Cafés und Szene-Kneipen sucht man vergebens, gleichwohl die Straße auf halbem Weg zwischen Volksbühne und Hackeschen Höfen liegt.

Viele der Anwohner halten Almstadt für eine Ortsbezeichnung. Doch die einstige Grenadierstraße soll seit 1951 an den vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten KPD-Funktionär Bernhard Almstadt erinnern, nur stand auf dem Schild jahrelang irrtümlicherweise "Almstädtstraße".

An die Ostjuden, die hier im Scheunenviertel einmal gelebt haben, erinnerte lange Zeit nichts. Mittlerweile fehlen sie in keinem Reiseführer, als exotische Skurrilität und "belletristische Rosinen im trockenen historischen Kuchen", wie es der verstorbene Journalist Eike Geisel schrieb.

Das eigentliche Scheunenviertel lag in der Gegend um den heutigen Rosa-Luxemburg-Platz. Seine Entstehung geht auf die Feuerverordnung aus dem Jahr 1672 zurück. Fortan hatten Berliner Handwerker wie auch Bürger, die noch Äcker und Gärten besaßen, ihre mit Stroh überdachten Arbeitsstätten vor der Stadt zu errichten. Einer der zugewiesenen Orte war das "Scheunenfeld", nördlich der damaligen Stadtgrenze. So hießen denn auch die Gassen bald "Lange Scheunengasse", "Kleine Scheunenquergasse" oder "Hirtengasse". Etwas abseits verlief damals die "Verlorne Straße", die 1817 in "Grenadierstraße" umbenannt wurde.

Das historische Scheunenviertel wurde vor dem Ersten Weltkrieg abgerissen. In dieser einen Straße aber, der heutigen Almstadtstraße, lebte das Scheunenviertel weiter.

"Bei uns in der Grenadierstraße kennse alles haben", ließ Carl Zuckmayer einst den jüdischen Händler Krakauer seinen Trödel anpreisen. Die Hauptmannsuniform war nicht ganz billig, dafür aber Säbel inklusive. Eine Gelegenheit, die sich der alte Schuster Voigt nicht entgehen ließ.

Ob Bücher, Altwaren oder koschere Lebensmittel - zu kaufen gab es allerhand. Nicht nur in den Läden, auch davor, von den "Damen, die im öffentlichen Leben stehen" (Döblin). Geradezu berüchtigt aber war die Grenadierstraße als Unterschlupf für Kriminelle, meist Zuhälter und kleine Gauner. Manche von ihnen mit besten Manieren, wie der Chef einer Diebesbande. Nach einem versehentlichen Einbruch bei einem Rabbi soll der Mann sich umgehend entschuldigt haben: "Bei den eigenen Leuten einzubrechen. Ausgerechnet beim Rabbi Pinchus Elieeser, der so schöne Töchter hat." - So jedenfalls erzählt es die Legende. Der Geistliche habe freilich sofort sein Eigentum zurückbekommen.

Seine Gemeinde wird nicht allzu groß gewesen sein. In der Grenadierstraße, der "Jüdischen Schweiz", gab es etliche Betstuben und Talmudschulen. Dennoch waren die Ostjuden, die in den Elendsquartieren wohnten, eine Minderheit, die jedoch in Aussehen, Sprache und religiösen Gewohnheiten deutlich auffiel. Einige hatten schon immer hier gelebt. Andere waren vor Pogromen in Osteuropa geflüchtet oder im Ersten Weltkrieg angeheuert worden, um in kriegswichtigen Betrieben zu arbeiten. Nicht wenige von ihnen wähnten sich auf der Durchreise. Mit Beginn der zwanziger Jahre aber hatten die USA ihre Einwanderungsquoten gesenkt. Also richtete man sich ein - im "Ghetto", wie man damals sagte. Nur war es ein Ghetto ohne Mauern und "mit offenen Toren", so der Historiker Horst Helas, Autor des Buches "Juden in Berlin-Mitte".

Über das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden gibt es viele anrührende Geschichten, aber auch verlässliche Quellen. In einer Eingabe an den Magistrat etwa beklagte 1912 ein Bürger das "fremdländische Judentum", das durch sein Herumstehen auf der Grenadierstraße, das ungestörte Passieren derselben "außerordentlich erschwert". Derlei fremdenfeindliche Ressentiments schlugen in der Weimarer Republik bisweilen um in offenen Antisemitismus.

Im Zuge der Inflation war es im Herbst 1923 reichsweit zu Hungerrevolten und zur Plünderung von Lebensmittelgeschäften gekommen. Allein im Scheunenviertel trugen diese Ausschreitungen antisemitischen Charakter. Tausende Arbeitslose, denen auf dem Amt in der Gormannstraße keine Unterstützung gezahlt werden konnte, waren am 5. und 6. November 1923 durch die Grenadierstraße gezogen. Am helllichten Tag wurden Juden überfallen, nackt ausgezogen und beraubt. Einem der Opfer gelang es, in das Geschäft an der Ecke zur Hirtenstraße zu fliehen. Wie der völkische "Tag" seinen Lesern mitteilte, sei es darauf in dem Schlächterladen zum Gemetzel gekommen. Mit einem großen Beil habe sich der "jüdische Schlächter" der anstürmenden Menge entgegengeworfen. "Dadurch wurde ein Mann schwer und mehrere leicht verletzt." Der Schwerverletzte war im Übrigen der Fleischermeister, der kurz darauf verstarb.

Darüber, dass sich an dem Pogrom in der Grenadierstraße auch die nichtjüdischen Bewohner des Viertels beteiligt haben, existieren keine Belege. Allerdings ist auch nirgends bekannt geworden, dass sie ihr Bedauern ausgedrückt oder sich gar auf die Seite ihrer jüdischen Nachbarn gestellt hätten. Stattdessen hingen in einigen Schaufenstern Schilder mit dem Hinweis, die Inhaber seien "christliche Geschäftsleute".

Als zehn Jahre später, am 4. April 1933, die Plünderungen in der Grenadierstraße staatlich organisiert wurden, hatten diese Händler nichts zu befürchten. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. "Rette sich wer kann!" schrieb der Völkische Beobachter. Demnach hatten mehrere Bereitschaften Schutzpolizei und zudem noch hundert Mann "SS-Hilfspolizei" in den frühen Morgenstunden das Viertel abgeriegelt. Anschließend sei "das Haus des Juden Süß" gestürmt worden. "Die Karabiner pochen an die Tür (. . .) Herschel Süß, aufmachen! Aufmachen, Herschel Süß!" Bei der Durchsuchung wäre der Polizei "heftiger Widerstand" entgegengebracht worden, "obwohl man bemüht war, in aller höflichster Form eine Überprüfung der Räumlichkeiten vorzunehmen". Im Kellergeschoß sei die Polizei dann fündig geworden: "eine Reihe hochpolitischer landesverräterischer kommunistischer Hetzschriften, darunter Originalbriefe kommunistischer Gewährsmänner".

Über das Schicksal der an diesem Tag Verhafteten, die in "wilde Konzentrationslager" verbracht wurden, ist nichts bekannt geworden. Einen Hausbesitzer mit Namen Herschel "aus dem Stamme Süß" hat es nie gegeben, zumindest nicht in der Grenadierstraße. Aus der ehemals "Verlornen Straße" aber war die Straße der Verlorenen geworden. Horst Helas hat jahrelang nach Überlebenden gesucht, die Auskunft geben könnten, auch über die Ereignisse am 4. April 1933 - ohne Erfolg. Aus Israel erhielt er einen einzigen Brief, eine Absage:

"Nur die Zeitzeugen beider Seiten wissen wie es war. Die einen wollen vergessen, die anderen können es nicht. Die einen wollen kein Denkmal, die anderen brauchen es nicht. Also - wozu? Kultur schützt nicht vor Bosheit. Heute, 27. März 1995, würde meine Schwester 72 Jahre alt sein. Sie wurde nur 19 Jahre. Ihr ist dieser Brief gewidmet. G. Sommerfeld".

Im Jahr 1937 erinnerte das "Israelitische Familienblatt", das unter Auflagen noch in Berlin erscheinen durfte, an das jüdische Leben nördlich vom Alexanderplatz. In der Grenadierstraße habe es ein ganz besonderes Lokal gegeben. Hier gab es Fische zu essen, für die es keine andere Beschreibung gab, "als die berühmten und weltumspannenden drei Zungenschnalzer". Das Rezept soll ein Geheimnis gewesen sein, das "über einen kleinen Umweg von ein paar Jahrtausenden (. . .) bei einem berühmten Berditschewer Rebben" gefunden worden war. Richtige Wunderfische waren das, die auf der Zunge zergingen.

"Dies alles ist vorbei", heißt es in dem Artikel, "ist wie ausgelöscht, als hätte es nie existiert".