Auf Sex ist die Menschheit existenziell angewiesen, und nach Sex, nach erotischem Empfinden, nach Lust sehnen sich die allermeisten Menschen. Allerdings - bei Frauen lässt dieses Verlangen im Lauf der Jahre deutlich nach. Zwar spielen dabei Hormone und Botenstoffe eine Rolle. Aber nur eine beschränkte.
Die weibliche Lustlosigkeit lässt sich deshalb nur in engen Grenzen mit dem althergebrachten, historischen Arsenal von Liebeswirkstoffen mildern.
Einen überraschenden, in der medizinischen Forschungsgemeinde heftig diskutierten Weg, die weibliche Libido zu stimulieren, schlägt jetzt das deutsche Pharma-Unternehmen Boehringer Ingelheim vor. Das Unternehmen bemüht sich gerade um die Zulassung eines Libido-Medikaments, es heißt Flibanserin. Es handelt sich dabei um eine bereits gekannte und eingeführte Substanz. Denn ursprünglich war sie - ähnlich wie Viagra, das vor seiner Potenzpillen-Karriere als Herzmedikament vorgesehen war - als Arznei zur Therapie von Depressionen entwickelt worden. Doch während es in diesem Einsatzgebiet versagte, scheint es bei weiblichen Sexualstörungen eine echte Option zu sein. In vielen Veröffentlichungen in den USA hat Flibanserin bereits den Spitznamen "rosa Viagra".
Flibanserin beeinflusst im Gehirn die Arbeit des Botenstoffs Serotonin: Es blockiert einige der zuständigen Rezeptoren, andere wiederum öffnet das Medikament - komplizierte, nicht völlig enträtselte Vorgänge, an deren Ende jedenfalls dann eine Steigerung der Libido steht. Dass dieser Mechanismus tatsächlich Erfolgsperspektiven hat, zeigt ausgerechnet das Beispiel der Migräne-Patienten. Denn der berüchtigte Kopfschmerz mag zwar in Geschichte und Gegenwart zahllose Beischlafgelegenheiten unterbunden haben.
Migräne und Sex durch Serotonin
Aber einer der heitersten Erkenntnisse der Wissenschaft nach ist gerade Migräne dazu angetan, das sexuelle Verlangen zu steigern - wie Forscher der Wake Forest University in North Carolina herausfanden. "Unsere Untersuchungen legen nahe, dass Migränekopfschmerzen und das Verlangen nach Sex durch dieselbe Substanz hervorgerufen werden", sagt Studienleiter Timothy Houle, "nämlich durch Serotonin." Die US-Forscher stellten fest, dass Migräne-Kranke ein um 20 Prozent stärkeres Verlangen nach Sex verspüren als Patienten mit Spannungskopfschmerzen.
Erste klinische Untersuchungen an knapp 1400 libidoschwachen Frauen verstärkten ebenfalls die Hoffnungen auf Flibanserin. Demnach steigert das Mittel die Anzahl der befriedigenden Sex-Erlebnisse von 2,8 auf 4,5 pro Monat. Zu denken gibt allerdings, dass sich die Quote durch ein wirkungsloses Placebo ebenfalls auf 3,7 steigern ließ. Was deutlich macht, dass Psyche und Erwartung bei der menschlichen Sexualität eine Schlüsselrolle spielen. Außerdem ist Flibanserin - im Unterschied zu Viagra - dauerhaft einzunehmen. Dies erhöht nicht nur die Kosten der Therapie. Es steigert auch das Risiko von Nebenwirkungen. Ob diese gesundheitlich noch vertretbar sind, wird jetzt die Zulassungsbehörde beurteilen müssen.
Eine generelle Gegnerin von Flibanserin und anderen pharmazeutischen Nachhilfen für die Libido der Frau ist Leonore Tiefer von der New York University. Die Psychiaterin hält es für ausgeschlossen, mit irgendeiner Pille sexuelle Probleme von Frauen zu lösen. Sie kritisiert auch die von Boehringer Ingelheim gesponserte Web-Site www.sexbrainbody.com , weil sie den Frauen suggeriere, dass sie weder mit ihrem Arzt noch mit ihrem Ehemann, noch mit sonst jemandem reden müssten, um sexuelles Glück zu finden. "Es wird der Eindruck vermittelt, dass man nur wieder den Botenstoffwechsel im Hirn in die Balance bringen müsse", so Tiefer.
In der Tat zeigen aktuelle Studien, wie vielgestaltig das Sexualverlangen von Frauen ist. Moralvorstellungen spielen dabei eine große Rolle. So glauben beispielsweise immer noch viele, mit dem Klimakterium sei das Ende der Frau als sexuelles Wesen erreicht. "Dabei könnten sie damit eine neue sexuelle Freiheit genießen", sagt Tiefer, "weil die Angst vor ungewollter Schwangerschaft keine Rolle mehr spielen kann."
Was Frauen erwarten
Für Marta Meana von der University of Nevada ist das männliche Begehren der Schlüssel zum weiblichen Verlangen: "Eine Frau will begehrt werden, will erwählt sein, will einen Mann, dessen Verlangen nach ihr möglichst sichtbar, vielleicht sogar unkontrolliert ist." Allerdings: Die emotionale Bindung zum Sexpartner spiele für guten Sex keine sonderliche Rolle, sagt Meana. In einer Studie bezeichneten es sogar zwischen 30 und 50 Prozent der Frauen die Vorstellung als erregend, beim Sex bedroht oder gefesselt zu werden - allerdings ohne sie in Angst zu versetzen.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass man Frauen generell das Bedürfnis absprach, einen Orgasmus haben zu können. Im 15. Jahrhundert bezeichnete man den weiblichen Höhepunkt als "hysterische Krise", womit er gleichsam als krankhafter Zustand galt. Sigmund Freud beschäftigte sich zwar mit weiblicher Sexualität und folgen ihrer Verdrängung. Doch auf den Orgasmus kam er kaum zu sprechen. Außerdem rätselte er bis an sein Lebensende, was Frauen vom Sex erwarteten.
Seit den Sex-Reports von Kinsey und Masters & Johnson, nach der Emanzipationsbewegung in den 60er-Jahren ist der weibliche Orgasmus jedoch mehr als nur ein Thema geworden. Mittlerweile ist es nicht nur in Ordnung, dass Frauen einen Orgasmus er- und ausleben, sie sollen, sie müssen es sogar. Erst recht, seit Viagra die allzeit unverzügliche Vollzugsfähigkeit der Männer bis ins Alter steigerte. Wenn der Mann noch als Greis Spaß am Sex haben kann, warum nicht auch die Frau?
Die Pharma-Industrie reagierte auf den Bedarf nach weiblicher Genussfähigkeit mit einem naheliegenden Präparat - mit Viagra. Es stellte sich allerding rasch als wirkungslos heraus. Es sieht danach aus, als hätten die Psychologen recht: Bei Frauen ist tatsächlich die nachlassende Sexualität weniger eine Frage des Könnens als des Wollens. Während beim Mann die Beseitigung physiologischer Hemmnisse völlig ausreicht für ein erneuertes Sexualleben, ist die Lust der Frau abhängig von den recht komplizierten Zugängen zu ihrer Libido.