Sascha-André Liehr lebt in einer Wohnung in einem Friedrichshainer Hinterhof und ist überzeugt, dass er die Welt von hier aus ein bisschen verändert hat. Er sitzt neben einem Kohleofen, klappt seinen Laptop auf und tippt “Berlin ist arm, aber sexy“ in die Suchmaschine.

Dieser Satz von Klaus Wowereit ist wohl der bekannteste des Jahrzehnts über die Hauptstadt. 70.000-mal steht er im Netz. Dort hängt die Messlatte für eine Liga, in der auch Sascha-André Liehr mitspielt. Das weiß nur niemand.

Liehr schreibt einen weiteren Satz, einen unauffälligen, aber unverwechselbaren. "Die Metropole Berlin gilt als Weltstadt der Kultur, Politik, Medien und Wissenschaften." Jahrelang habe er an der Reihenfolge dieser Wörter gefeilt, sie mit Quellen belegt, ehe er sie bei Wikipedia aufschrieb. Exakt dieser Satz, sein Satz, taucht nun mehr als 165.000-mal im Internet auf. Kopiert von renommierten Stiftungen, Reiseanbietern, Unternehmen, sogar vom iTunes-Musikstore von Apple. "Kultur, Politik, Medien und Wissenschaften", so steht es auch im englischen Wikipedia-Artikel über Berlin, der sich lange mehrheitlich um Nazigeschichte drehte.

"Berlin sollte angemessen dargestellt werden", sagt der 38-Jährige. Liehr hat viele Fächer studiert, aber nichts zu Ende, er spielt Nebenrollen in Filmen. Auch den Deutschland-Artikel hat er geprägt, die meisten Bilder recherchiert und eingefügt, auch eine Luftaufnahme: Grüne Wiesen zeigt sie, so weit das Auge reicht. Aufgeräumt, fruchtbar, verlässlich. Es sind die Vierecke der typisch deutschen Siedlungsstruktur, so wie sie viele schon aus dem Flugzeug gesehen haben. Dieses Bild, sagt er, habe ikonische Kraft.

Große Wirkung

Nur ein Jahr später warb eine Bausparkasse in ihrer "Deutschland-Kampagne" mit ähnlichen Luftbildern. Der Fernsehspot erhob die grünen Vierecke zum Markenzeichen des Landes. Vielleicht sei es vermessen, sagt Liehr, aber er glaube nicht, dass diese Werbung zufällig entstand. "Sicher ist, dass meine Arbeit eine große Wirkung hat."

Berlin ist die Hochburg von Wikipedia. Rund 200 aktive Autoren leben hier, bundesweit sind es gerade mal 1000. Es sind Studenten, Juristen, Unternehmer im Ruhestand, Polizeibeamte und Fotografen. Der deutschsprachige Artikel über die Hauptstadt ist 20 Seiten lang, 250.000-mal wird er im Monat abgerufen.

Das "Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie", hat die Bedeutung eines Massenmediums erreicht. Wikipedia steht auf Platz sechs der deutschen Websites, vor führenden Nachrichtenportalen. Kürzlich verkündete der Verlag der Encyclopedia Britannica, dass ihr Angebot künftig nur noch online abrufbar ist, eine Zäsur nach 244 Jahren. 1400 Dollar kostete das gedruckte Nachschlagewerk. Auch der deutsche Brockhaus setzt auf das digitale Geschäft. Diese Vorgänge sind auf Wikipedia nachzulesen. Gratis, natürlich.

Während die Zahl der Artikel weiter steigt, aktuell sind es 1,4 Millionen in deutscher Sprache, zeichnet sich ein Engpass beim Nachwuchs ab. "Wenige Autoren müssen sehr viele Artikel pflegen", sagt Martin Rulsch. Er nennt sich "DerHexer", studiert Altphilologie, schreibt ebenso über Heavy Metal wie griechische Sagen und trägt sein Hemd ordentlich zugeknöpft. Er gehört zum exklusiven Kreis der 290 deutschsprachigen Administratoren. Wenn Massenmedien eine Macht haben, gilt das auch für ihn. Er entscheidet über Löschungen und Sperren für Benutzer. Andere Administratoren haben bereits versucht, ihre Zugänge bei Ebay zu versteigern, sie treten selten mit echtem Namen auf, wie auch die Autoren. Im Prinzip aber werden Administratoren von registrierten Benutzern gewählt, gewissermaßen ist es ein politisches Amt. Editieren ist wie Wahlkampf. Ein paar tausend anerkannte Änderungen sollte ein Kandidat vorweisen.

Gemütlicher Politologe

"Ein WC-Reiniger ist ein saures Reinigungsmittel für Toiletten", dieser Artikel hätte nicht lange überlebt, hieße der Autor nicht Southpark. Das ist Dirk Franke, ein gemütlicher Politologe aus Schöneberg mit Bücherwand im Wohnzimmer, er schreibt gerade seine Doktorarbeit. Der 36-Jährige hat zentrale Artikel verfasst, über den Philosophen John Stuart Mill oder die Ursprünge des Hip-Hop. Oft dauert es nur Minuten, ehe eine Debatte startet, ob das Thema relevant ist. Öffentliche Orte im Netz sind wie Bahnhofsplätze; sie vermüllen. Doch Southpark genießt Respekt, also ließ ihn die kritische Gemeinschaft über Toilettenreiniger schreiben. Die Idee kam beim Putzen: Franke überlegte, ob er andere Mittel ins Klo schütten könne. Vor allem Notfallmediziner konnten ihm viel sagen über diese Chemikalie. Längst ist ein großer Beitrag daraus geworden, ein Mitstreiter hat sogar Klosteine fotografiert.

Franke lebt zusammen mit Katharina, 36. Sie lernten sich über Wikipedia kennen. Weniger als zehn Prozent der Wikipedianer sind Frauen. Sie las damals einen Artikel über Eskimos und schrieb einem Bearbeiter aus der Versionsgeschichte eine Frage. Der antwortete, er habe nur Kommafehler verbessert. "Da habe ich verstanden, wie Wikipedia funktioniert." Man müsse sich nur trauen, Texte einer Weltöffentlichkeit zu präsentieren.

Katharina schrieb auch den Artikel über Futschi, die Westberliner Mischung aus Asbach Uralt und Cola, dieser Artikel verrät viel darüber, wie Wikipedia funktioniert. "Futschi gilt als traditionelles Lieblingsgetränk in proletarisch geprägten Milieus in Westberlin", so hatte ihn ein Unbekannter angelegt. Zehn Minuten später war er gelöscht; Wikipedia sei kein Slang-Lexikon. Katharina legte den Artikel wieder an und bestückte ihn mit Verweisen, etwa auf einen Songtext der Rapper K.I.Z: "Ey du hast hier noch n bisschen wat auffe Uhr, n paar Futschi sind hier noch offen!" Sie benutzte auch eine Bücher-Volltextsuche und fand das Getränk in Romanen. Belege aus Büchern, die sie nie gelesen hatte. Das ist beliebtes Werkzeug. "Fußnoten schaffen Autorität", sagt Katharina mit feiner Ironie. Sie schreibt auch Artikel über Kunstgeschichte und weiß, was der Unterschied zwischen echtem Wissen und solchem aus der Suchmaschine ist. Um den Futschi ist es seitdem ruhig geworden.

Während in der Wikipedia-Welt um kontroverse Themen wie den Nahost-Konflikt gestritten wird, ringen Autoren des Berlin-Artikels um Buddy Bären. Das sind bunte Tierskulpturen, die von Unternehmen gesponsert werden und für Weltoffenheit werben sollen. Ihr Bild steht im Artikel neben Fotos der Museumsinsel und der Berlinale. Ein Benutzer entfernte das Tierchen, es hätte kaum die Relevanz der übrigen Bilder. Der Bärenfreund schoss zurück: Buddy-Bären seien auch in chinesischen Reiseführern zu finden, sie seien ein "neues Wahrzeichen". Antwort: "Peinlich" sei es, Buddy Bären auf eine Stufe mit Berlins Kulturleben zu setzen, zudem seien sie im Artikel nicht erwähnt. Das änderte sich wenig später: "Nur, weil er vorher nicht drin war, heißt das nicht, dass er jetzt nicht drin stehen darf", so die Begründung. Es wurden Streitschlichter bestellt, um Argumente auszuzählen: 7 zu 5. Der Bär blieb.

Recht behalten

In der Wikipedia geht es oft darum, Recht zu behalten. Viele Autoren meiden Streit und suchen Nischen. Lienhard Schulz ist so einer, man könnte den 65-Jährigen als eine Art Alexander von Humboldt für das Berliner Umland bezeichnen. Der Soziologe hat seine Reisebürokette "Passatreisen" verkauft und investiert viel Zeit in Wikipedia. Er fährt nicht nach Südamerika, um unbekannte Pflanzen zu entdecken, aber nach Brandenburg. Etwa zur Ragöse, einem Bach im Landkreis Barnim. Auf acht Seiten erfährt man, dass sein Wasser mit 40 Zentimetern pro Sekunde fließt, der Name 700 Jahre alt ist und bedeutet: "Dort, wo Schilf wächst." Einen Monat hat Schulz daran gearbeitet. Mitstreiter erstellten Grafiken. Der Artikel ist einer von nur 2067 als "exzellent" ausgezeichneten deutschen Artikel.

Die Ragöse hat auch einen Eintrag auf "Uncylopedia", das ist eine Satireseite. "Nichts ist so irrelevant, dass nicht doch ein Artikel Wikipedia verzieren könnte", steht dort. Hier können sich Kommentatoren austoben, die gesperrt wurden für Wikipedia, weil sie Texte zu oft und ohne Sinn verändert haben. Schulz sagt, er habe gelernt, über Kritik erst mal eine Nacht zu schlafen, bevor er reagiert.

Seine Kritiker kennt er selten persönlich, sie sind nicht unter den rund 20 Autoren, die regelmäßig den Berliner Stammtisch besuchen. Dort ist es eher harmonisch. "Wie es eben ist, wenn ein Haufen freundlicher Besserwisser zusammensitzt", sagt ein Teilnehmer. Doch nicht alle Randalierer enden in der virtuellen Gummizelle "Uncylopedia". Sie melden sich einfach neu an. Auch Schüler schreiben Quatsch in Artikel: "Paul ist doof" etwa. Virtuelle Klosprüche. Administratoren beobachten, dass Vandalismus vormittags ausgeprägt ist, wenn sich der Nachwuchs in der Schule langweilt. "Schulen vom Netz", über diese Initiative habe man nachgedacht, sagt ein Wikipedianer hinter vorgehaltener Hand. Mittlerweile müssen Änderungen von einem Sichter freigeschaltet werden. Es ist eine pragmatische, aber umstrittene Regel, weil bei Wikipedia eigentlich alle mitarbeiten sollen - und zwar sofort. Im Wahlkampf, heißt es bei Wikimedia, müssen zahlreiche Nutzer aus dem Bundestag gesperrt werden, weil sie Politiker-Artikel editieren. Dabei geht es auch um die Frage: Welcher Mensch darf einen Wikipedia-Eintrag haben? Zu beobachten war das, als der Türsteher des Berliner Clubs Berghain, Sven Marquardt, einen Artikel bekam. Eine Minute später war er gelöscht: "Wir sind kein Türsteherverzeichnis", hieß es. Befürworter sagten, dass der Bewacher des Clubs häufig in der Presse sei. Das reichte offenbar als Argument.

Auch Werbeprofis sind eine Gefahr für das Projekt. Wie sehr, darüber gibt es wenige Erkenntnisse. Bezahlte Autoren sind willkommen, wenn sie ihre Mission offenlegen und sich neutral verhalten. Viele Pressestellen halten sich laut Wikimedia daran. Auch, weil die Gefahr aufzufliegen groß ist - wenn bissige Kommentare in der Suchmaschine auftauchen, ist das keine gute Werbung.

Olaf Tausch ist Polizist aus Schönwalde. Früher geigte er in einem Orchester, heute schreibt er über Berlin und Orte wie den Tempel von Abu Simbel in Ägypten. In einem Mallorca-Urlaub wanderte er durch die Schlucht Torrent de Pareis. Er las auch den Wikipedia-Artikel darüber, fand ihn unvollständig und ergänzte ihn. Kürzlich fand der 51-Jährige in einer kleinen Lokalzeitung einen Text, der wörtlich dem Wikipedia-Eintrag über den Stadtteil Buch entsprach. Tausch schrieb den Journalisten an, der freimütig sagte, er habe den Text aus einer kostenlosen Infobroschüre. Details will er nicht nennen.

Wissen verbreiten

Viele Autoren tolerieren zähneknirschend, wenn ihre Artikel kopiert werden, schließlich sei es Mission, Wissen zu verbreiten. Erlaubt ist das nur, wenn die Quelle genannt wird. Als der Artikel über Barack Obama von Southpark als E-Book im Internetversandhaus Amazon auftauchte, für 12,99 Euro, ging das zu weit.

Das Internet ist ein Ort, in dem Welten schnell zerbrechen. Die Plattform Myspace verschwand nahezu, als das Netzwerk Facebook startete. Wikipedia dagegen könnte bleiben. Mit dem Projekt "Silberwissen" wirbt Wikimedia gezielt ältere Autoren, die ihr Wissen weitergeben wollen. Auch Lienhard Schulz, der Humboldt von Brandenburg, kümmert sich darum. In seinen Seminaren vermittelt er, dass Wikipedia keine Chronik sei für persönliche Lebensgeschichten. Und eben, wie die Technik funktioniert. Viele Wikipedianer kritisieren, dass Anfänger es zu schwer haben in der Wikipedia, die obligatorische Anleitung der Community sei zu kompliziert, formuliert vom kleinen Kreis der Engagierten. "Dabei ist es auch heute noch einfach, mitzumachen", sagt Schulz. Ein Satz sei entscheidend: "Sei mutig!"