Anschlag in Norwegen

Von Feinden umgeben - Die kranke Welt des Anders Breivik

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Florian Flade und Alan Posener

Was im Kopf eines Massenmörders vorgeht, wann die Sicherungen durchbrennen und warum, das ist selbst für Psychologen schwer nachvollziehbar. Denn "zwischen den Gedanken und die Tat fällt der Schatten", wie es der Dichter T. S. Eliot formulierte. Die meisten von uns durchschreiten diese Schattenzone nie. Anders Behring Breivik hat es getan.

Ist der 32-Jährige ein Psychopath? Einsam war er wohl, ein Sonderling, obwohl er blendend aussieht und offensichtlich durchaus einiges geschäftliches, organisatorisches und - man muss es wohl so sagen - militärisches Geschick besaß. Zunehmend scheint er von den hasserfüllten Gedanken besessen worden zu sein, die er selbst in die Welt setzte.

Im Frühling 2009 gründete der Einzelgänger eine Ein-Mann-Firma in Hedmark, angeblich, um verschiedene Gemüsesorten und Früchte anzubauen. Damit hatte er Zugriff auf Düngemittel - Rohstoff für selbst gebastelte Bomben. Er wohnte trotz der Hedmarker Meldeadresse weiter in Rana, östlich von Lillehammer.

Seine Nachbarn beschreiben ihn als unauffällig und freundlich. Er habe einen Zaun um sein Grundstück gezogen, erinnern sich Anne und Ragnar Pedersen, aber ums Rasenmähen oder um Gartenarbeit habe er sich nie gekümmert.

Am 4. Mai 2011 kaufte Anders Breivik bei einer Handelsgesellschaft sechs Tonnen Dünger. "Wir haben ihm Anfang Mai sechs Tonnen Dünger verkauft, was eine ziemliche Standard-Bestellung darstellt", bestätigte die Sprecherin einer landwirtschaftlichen Kooperative, Oddny Estenstad, am Sonnabend. Zur genauen Zusammensetzung des synthetisch hergestellten Düngers wollte sie keine Angaben machen. Aus Kunstdünger können Sprengsätze hergestellt werden.

Die Pedersens registrierten, wie ihr Nachbar den Dünger gleich in seine Garage verfrachtete. "Sinnvoll wäre, wenn man es draußen lagern würde, um es gleich zu benutzen", dachte Anne Pedersen noch.

Bild der Gedankenwelt

Die Berliner Morgenpost hat die Internet-Einträge des Attentäters von Oslo und Utoya ausgewertet, um sich ein Bild von seiner Gedankenwelt zu machen. In seinen Schriften offenbart Breivik ein Weltbild, in dem der Islam Europa bedroht, und die Linke, der Multikulturalismus und die politische Korrektheit den Kampf gegen diese Gefahr behindern. So gewinnt der Anschlag gegen Norwegens sozialdemokratischen Regierungschef und die Jugendorganisation seiner Partei eine makabre Logik. Will man - bei aller Vorsicht - Vergleiche ziehen, ähnelt seine Tat weniger den Amokläufen von Erfurt und Winnenden, sondern eher dem Anschlag des amerikanischen Rechtsextremisten Timothy McVeigh in Oklahoma City oder den Terrorakten der Islamisten.

Zwischen September 2009 und Oktober 2010 hinterließ Breivik auf der rechtspopulistischen Internet-Plattform "document.no" zahlreiche Kommentare und Diskussionsbeiträge. Er habe studiert, ein Unternehmen gegründet und Millionen verdient, erzählte Breivik über sich. Das Geld nutze er, um ein "politisch aktives Leben finanzieren zu können" und um konservative Organisationen und deren politische Ideologie zu fördern. Er sah sich als Teil einer europaweiten Bewegung: "Es gibt große politische Umwälzungen in Westeuropa", schrieb er. "Die kulturelle konservative Bewegung wächst im Rekordtempo, und es gibt einen Konsolidierungsprozess in allen westeuropäischen Ländern. Jeder kann beitragen, und jeder Beitrag zählt."

Breivik war bis vor einigen Jahren aktiv in Norwegens FrP, der rechtsliberalen Fortschrittspartei. Als "stillen und bescheidenen Mann" beschreibt Ove A. Vanebo, derzeitiger Chef der Jugendorganisation der FrP, das ehemalige Parteimitglied. Die FrP entstand in den 70er-Jahren aus einer Protestbewegung gegen das Steuersystem und vertritt wie ähnliche Parteien in Europa eine Begrenzung der Zuwanderung, die Stärkung der Rechte des Einzelnen, den Abbau staatlicher Sozialprogramme und die Privatisierung staatlicher Unternehmen. Der Multikulturalismus und "marxistische" - also linke - Politiker hätten die norwegische Kultur unterwandert, so Breivik. Ähnlich lautet die Rhetorik der Fortschrittspartei. So warfen die führenden Parteimitglieder Kent Andersen und Christian Tybringe Gjedde vor einem Jahr in einem Gastkommentar für die Tageszeitung "Aftenposten" der regierenden Arbeiterpartei einen "Dolchstoß in den Rücken" der norwegischen Kultur vor. "Es ist die Arbeiterpartei, die uns jedes Jahr Tausende von neuen Norwegern von unterschiedlichen Kulturen und Unkulturen gibt." Für Breivik wird Europas Identität vom Islam bedroht. "Defeating Eurabia" (wie man Eurabien besiegt), ein antimuslimisches Pamphlet des Bloggers "Fjordman", sei das "perfekte Weihnachtsgeschenk für die Familie und Freunde", so Breivik. "Eurabien" ist in rechtsradikalen Kreisen ein Codewort für ein mit Unterstützung der Europäischen Union - etwa des "Kommunisten Barroso" - islamisiertes Europa.

Stolz auf Religion und Kultur

Muslimischen Migrantenkindern werde beigebracht, stolz auf ihre Religion und Kultur und ihre konservativen Werte zu sein, "während norwegische Männer feminisiert werden und übermäßige Toleranz lernen". Der Schulunterricht für norwegische Kinder bestehe nur noch aus der "Dämonisierung unserer Vorfahren (böse Imperialisten; Großbauern, die Mägde vergewaltigten; blutrünstige Kreuzritter, die friedliche Muslimen erobern)". Norwegen drohe das gleiche Schicksal wie dem Libanon. Dort seien Christen nun in der Minderheit und würden unterdrückt.

"Nennen Sie mir ein Land, wo Muslime friedlich mit Nicht-Muslimen leben, ohne dass sie den Dschihad gegen die Ungläubigen führen", schrieb der spätere Massenmörder und erging sich in Fantasien eines bevorstehenden muslimischen Blutbads: Mehrere Hundert norwegische Kinder hätten vermutlich bereits Selbstmord begangen, weil sie von muslimischen Jugendlichen misshandelt, ausgeraubt und vergewaltigt wurden. "Wie viele Tausende junge Europäer müssen sterben, wie viele Hunderttausend europäische Frauen vergewaltigt und Millionen ausgeraubt werden, bevor Sie verstehen, dass Multikulturalismus + Islam nicht funktioniert?"

Möglicherweise fantasierte sich Breivik auf diese Weise in die Rolle des einsamen Rächers potenzieller Opfer des Islam und des allzu laschen "Multikulturalismus" hinein. Seine Tat wäre ein Fanal gegen die Linke und zugleich eine Demonstration dessen, was den "Tausenden und Hunderttausenden" bevorstehe, wenn sie sich nicht gegen den Islam wehrten.

Breivik bezeichnete sich selbst als "Protestant und nach freiem Willen getauft". Aber "die heutige evangelische Kirche ist ein Witz". Priester in Jeans marschierten für Palästina. Er befürworte eine Rückbesinnung der Protestanten auf ihre Grundlagen, ja die Rückkehr zur katholischen Kirche. Die Norweger müssten lernen, wieder christlich und national zu denken. Der entscheidende Kampf sei nicht mehr Kapitalismus gegen Kommunismus, sondern Internationalismus gegen Nationalismus.

Diejenigen, die wie er die Gefahr des Islam und des Internationalismus erkannten, sah Breivik von Feinden umstellt. Norwegen und Schweden gehörten zu den weltweit repressivsten Regimes in Sachen Meinungsfreiheit. Es gebe eine Pressezensur, "wenn es um eine kritische Sicht der Islamisierung und des Multikulturalismus geht". Die konservative Politik werde "terrorisiert". Deshalb müsste man "gemeinsam am Aufbau einer großen konservativen Tageszeitung arbeiten". Besonders wichtig sei es, die Jugend zu erreichen. Das tat er dann auf seine Weise auf der Insel Utoya.

Eine neue Gegenöffentlichkeit

Wann Breivik den Gedanken an die Schaffung einer christlich-nationalen Gegenöffentlichkeit und Gegenkultur aufgab und sich zur Propaganda der Tat entschied, ist noch unklar. Doch war die Tat offenbar von langer Hand vorbereitet. "Der größte Fehler, den die meisten Menschen machen", schrieb er, "ist, dass sie davon ausgehen, dass 'jemand anders' die Anstrengungen für sie machen wird." Breivik wurde also selbst dieser "jemand anders".

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