Unsere Autorin Elisalex Clary im Gespräch mit Davi Kopenawa Yanomami Große Aufmerksamkeit erregt der Schamane nicht im Menschengewühl am Potsdamer Platz.
Unsere Autorin Elisalex Clary im Gespräch mit Davi Kopenawa Yanomami
Große Aufmerksamkeit erregt der Schamane nicht im Menschengewühl am Potsdamer Platz. Obwohl er zu Jeans und einer abgenutzten Fleece-Jacke eine Krone aus Tukan-Federn trägt und sich rote Streifen auf die Wangen gemalt hat, laufen die Menschen einfach vorbei an diesem stämmigen kleinen Mann um die 50, der aus dem Amazonas angereist ist, um die Bundeskanzlerin an die Schutzbedürftigkeit des Regenwalds zu erinnern.
Stutzig werden nur die Leute, die an der Ampel hinter dem Schamanen stehen. Die mitkriegen, wie er fünf mal links und rechts schaut, bevor er einen Fuß auf die Straße setzt, obwohl längst das grüne Männchen leuchtet. Die fast in ihn hineinlaufen, weil er so langsam geht, wie ein verschrecktes Kind, mit hochgezogenen Schultern. Manchmal muss er selbst über seine Unsicherheit lachen. So unheimlich es ihm sein mag, wenn Menschen und Maschinen in großer Zahl auf engem Raum zusammenkommen, Davi Kopenawa Yanomami ist alles andere als ein Angsthase.
Tapirjäger und Menschenrechtskämpfer
"Ich bin ein Krieger und ein Sohn der Yanomami", sagt er in rauem Portugiesisch, das eine Begleiterin von der Umweltschutzorganisation Survival International übersetzt, "und ich bin hier, um möglichst vielen Menschen von den Problemen meines Volkes zu erzählen und für seine Rechte zu kämpfen."
Dieser Kampf ist der Grund dafür, dass Davi Kopenawa Yanomami das winzige Dorf im Amazonas-Gebiet verlassen hat, in dem er zu Hause ist. Eigentlich ist es bloß eine Hütte, die er sich mit 153 anderen seines Stammes teilt, groß und kreisrund, mit einem Loch in der Mitte. Sie liegt am Fuße des "windigen Berges", eineinhalb Flugstunden von Boa Vista entfernt, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Roraima. Wenn er nicht gerade auf Reisen ist, lebt er immer noch dort - ohne Geld, ohne Maschinen und fast ohne Kleider: Er jagt Tapire oder Wildschweine, pflanzt Bananen, Yams und Süßkartoffeln an, inhaliert den Rauch der halluzinogenen Yakoana-Pflanze, um auf spirituelle Schamanen-Reisen zu gehen, und schläft abends in einer Hängematte ein.
Am Anfang seines Kampfes hatte der Schamane nicht einmal einen Nachnamen. Also lieh er ihn sich von seinem Volk, den Yanomami, der größten indigenen Gruppe im Amazonas-Gebiet. 12 000 dieser Halb-Nomaden leben noch im Norden Brasiliens, 20 000 weitere in Venezuela. In den Achtzigerjahren fielen erstmals die Goldgräber über das Land her, von dem die Yanomami seit Jahrtausenden leben. Sie töteten nicht nur die, die sich ihnen in den Weg stellten, sie vergifteten auch die Flüsse mit Quecksilber und schleppten Krankheiten ein - Grippe, Masern, Windpocken -, an denen die Yanomami wie Fliegen starben.
Davi Kopenawa Yanomami, der als einer der wenigen seines Stammes Portugiesisch gelernt hatte, zog los, um Ärzte und Lehrer für seine Leute zu finden und Unterstützung für seinen Kampf gegen die Goldgräber. Er sprach vor Präsidenten, auf Konferenzen und mit Nichtregierungsorganisationen, um den Yanomami die Rechte an ihrem Land zurückzuerobern. Nachdem in nur sieben Jahren ein Fünftel seines Volks dem Goldrausch zum Opfer gefallen war, gab der Staat nach und deklarierte 9,6 Millionen Hektar Wald zum geschützten "Yanomami Park", ein Territorium, ungefähr doppelt so groß wie Niedersachsen. Spätestens als die UN Davi Kopenawa Yanomami dafür ihren Umweltpreis verliehen, den Global 500 Award, hat ihn sein Kampf zum wohl berühmtesten Indianer Brasiliens gemacht. Man könnte auch sagen: zu einer Art Dalai Lama des Regenwalds.
Der Schamane hat seitdem viele große Städte gesehen, New York, London, Paris, aber er mochte nur Rio de Janeiro - wegen der Strände und der Art, wie sich dort das Wasser bewegt. Auch Berlin lässt ihn eher kalt. "Die Menschen, die hier leben, müssen verrückt sein", sagt er, als wir uns durch die kauflustigen Massen in den Potsdamer Platz Arkaden schieben. Er selbst hat kein Geld dabei und besitzt auch nichts, außer den Kleidern, die er auf Reisen trägt, und ein paar Töpfen, Messern und Angelleinen. Sein Ticket nach Europa und den Aufenthalt bezahlt Survival.
"Ich bin es, der spricht"
Die Zusammenarbeit mit verschiedenen Nichtregierungsorganisationen (NGO) hat ihm auch Kritik eingetragen. Aber er sieht das gelassen: "Die NGOs laden mich ein, aber ich bin es, der spricht. Ich kenne die Probleme ja viel genauer als sie." Er selbst vergleicht sich gern mit einer Hornisse, er hat das Yanomami-Wort für Hornisse - "Kopenawa" - sogar in seinen Namen aufgenommen. "Die Hornisse beschützt ihr Zuhause", sagt er, "sie lässt niemanden rein, ihr Nest ist nur für Hornissen, so ist das bei uns."
Neuerdings nimmt er seinen ältesten Sohn Dario auf Reisen mit. Er ist 23 und soll einmal an seiner Stelle für die Yanomami sprechen. Dario läuft hinter seinem Vater her, er hat sein Handy aufgeklappt und fotografiert alles, was ihm vor den Sucher kommt.
Der Schamane ist stolz darauf, dass sein Sohn ein Lehrer ist und mit Computern umgehen kann. Er setzt sich dafür ein, dass viele junge Yanomami in die Städte gehen können, um eine Ausbildung zu machen oder sich medizinisch behandeln zu lassen. Aber er weiß, dass die Jungen bei ihrer Rückkehr vielleicht auch Dinge mitbringen werden, die die traditionelle Lebensweise der Yanomami gefährden: Alkohol, Aids oder einfach nur Fernseher. Er sagt: "Wir müssen schlau sein und in der Stadt lernen, wie wir unser Volk verteidigen. Wie wir es vermeiden können, weiß zu werden." Es ist ihm klar, dass es schwer werden wird, denn: "Wir haben keine Tür, die wir zumachen könnten."
Auf dem Weg zum Holocaust-Mahnmal erzählt die Übersetzerin dem Schamanen vom Völkermord an den Juden. Als er vor den grauen Stelen steht, sagt er: "Das Gleiche ist meinem Volk passiert, aber wir würden nie ein Denkmal bauen, um uns an die Menschen zu erinnern." Dann tippt er sich an die Stirn: "Es ist alles hier drin." Die Yanomami verbrennen die Körper ihrer Toten, sie mischen ihre Asche in Bananenbrei und essen sie auf. Das macht es besonders schwer, zu rekonstruierten, wie viele durch den Bergbau oder von Weißen importierte Krankheiten gestorben sind. Dabei wäre es gerade jetzt wichtig, denn es drängen wieder Goldgräber in das Land der Yanomami, 1000 illegale Arbeiter sollen bereits da sein. Die Regierung in Brasilia hat den "Yanomami Park" noch nicht als Stammeslandbesitz anerkannt, viele Politiker plädieren für eine drastische Verkleinerung des Territoriums, damit Goldgräber, aber auch Viehzüchter und Forstwirte den Rest uneingeschränkt bewirtschaften können. Und Davi Kopenawa Yanomami fürchtet wieder um sein Volk.
"Die Maschinen, die die Löcher graben", sagte er vor drei Wochen dem brasilianischen Präsidenten Lula da Silva auf einer Konferenz, "werden die Lunge der Erde verletzen und die ganze Welt bluten lassen."
Mit Federschmuck ins Kanzleramt
Ein paar Tage später setzte er sich in ein Flugzeug und reiste über London nach Berlin. Er will die Bundesregierung auffordern, das bisher einzige internationale Übereinkommen zum Schutz von indigenen Völkern (die von der Internationalen Arbeitsorganisation erarbeitete Konvention 169) zu ratifizieren. Es soll das Überleben von Gruppen wie den Yanomami sichern, auch indem es ihnen besondere Rechte an dem Land zugesteht, das sie als Erste besiedelt haben. Am Tag nach unserem Treffen wird er deshalb - abermals mit schwarz-rot-goldenem Federschmuck auf dem Kopf - Günther Nooke, den Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, im Auswärtigen Amt treffen und anschließend einem Legationsrat im Bundeskanzleramt einen Brief an Angela Merkel übergeben. "Ich will, dass ihr uns helft", sagt er über das Ziel dieses Briefes, und es klingt gar nicht nach einer schüchternen Bitte. "Ich will nicht, dass ihr uns Geld schickt, ich will, dass ihr Druck auf die brasilianische Regierung ausübt - gegen ein Gesetz, über das unser Parlament gerade berät und das unser Land für Minenarbeiten im großen Stil zugänglich machen würde."
Yanomami erkennen keine Häuptlinge an
Während wir uns dem Reichstag nähern, erklärt ihm die Übersetzerin, dass sich unter der gläsernen Kuppel die Menschen treffen, die die Deutschen zu ihren Vertretern gewählt haben. Der Schamane lacht, als er das hört. "Ich wurde nicht gewählt", sagt er. Die Yanomami erkennen keine Häuptlinge an, sie treffen ihre Entscheidungen im Konsens, nach langen Versammlungen, in denen alle mitreden dürfen. Der Schamane gehört zu den wenigen seines Stammes, die schon früh fließend Portugiesisch sprachen, aber an die Vorliebe der Weißen für Zahlen und Daten hat er sich nie ganz gewöhnt. In seiner Sprache gibt es ein Wort für "eins", eins für "zwei" und eins für "viele". Deshalb ist es auch nur eine Schätzung, dass er 14 war, als er als erstes Mitglied seiner Dorfgemeinschaft eine große Stadt besuchte: Manaus.
"Ich wollte wissen, wie der weiße Mann denkt. Warum versiegelt er die Erde mit Asphalt?", sagt er und klopft mit dem Fuß auf die Straße. Dann fällt sein Blick auf das Brandenburger Tor. "Warum baut er solche Gebäude?" Er hält kurz inne, bevor er weiterspricht. "Inzwischen habe ich einiges über die Stadtleute gelernt. Vor allem, dass es immer nur um Politik geht. Dreckige Politik." Während wir in Richtung Tiergarten laufen, überlegt er, ob er auch gute Seiten der westlichen Kultur kennengelernt hat. "Ja", sagt er, "die Weißen sind gut, um den Wald zu schützen." Als er die Gesichter seiner Begleiter sieht, setzt er hinzu: "Es ist gut für euch, dass ihr Strom und Autos und Geld habt, aber das heißt nicht, dass ich mir das für mich wünsche."
Olympiastadion erinnert ihn an seine Hütte
Es gibt nur wenige Dinge in der Stadt, die ihm mehr als höflich-nachsichtiges Desinteresse entlocken. An einem Souvenirstand zieht er eine Postkarte vom Olympiastadion aus dem Ständer, sie erinnert ihn an seine "Malocka", die Gemeinschaftshütte seiner Dorfgemeinschaft. Am Brandenburger Tor interessiert er sich für einen gusseisernen Schutzpfeiler und fragt, ob es eine Kanone sei. Und jetzt im Tiergarten, kurz bevor wir uns verabschieden, bleibt er plötzlich vor dem Löwendenkmal stehen.
Ob er schon einmal einen Löwen gesehen hat, will die Übersetzerin wissen. "Ja", sagt er. "In meinen schamanischen Reisen." Das Yakoana, dessen Rauch er sich dafür mit einem Rohr durch die Nase pusten lässt, stammt von einem Baum, "höher als die hohen Häuser dieser Stadt", und es ermögliche ihm, die Geister zu treffen, die in der Welt der Yanomami über den Wald und das Wetter und die Menschen herrschen. Heute reichen diese Begegnungen mit den Geistern und das Wissen um "Omami", den Schöpfer der Yanomami, dem Schamanen nicht mehr, um sein Volk vor Unheil zu schützen. "Die Krankheiten der Weißen können wir nicht heilen", sagt er. In zumindest einer Hinsicht hält sich der Schamane aber auch an den Rat seines Schöpfers, wenn er außerhalb des Regenwalds unterwegs ist: "Omami sagt: Auf Reisen sollst du nicht rauchen."