Können sich 340.000 Zuschauer irren? So viele haben in den vergangenen zehn Jahren das Prime Time Theater besucht. Und dort eine Aufführung der ersten und mit aktuell 88 Folgen wohl auch längsten Theater-Sitcom der Welt besucht: Rund 2000 Vorstellungen von „Gutes Wedding, schlechtes Wedding“, natürlich GWSW abgekürzt, sind über die vier Bühnen in Wedding gegangen, 150 Charaktere aufgetreten. GWSW-Erfinder und Theatergründer Constanze Behrends und Oliver Tautorat haben die Wedding-Verdienstmedaille und den „BZ“-Kulturpreis bekommen. Am heutigen Freitag hat die Jubiläumsfolge „Best of 10 Jahre GWSW“ Premiere. Wie immer zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr. Natürlich ausverkauft. Wer mitfeiern möchte, kann ab 22.30 Uhr bei der Party vorbeischauen.
Die Erfolgsgeschichte begann mit 35 Plätzen an der Freienwalder Straße. Der Laden wurde schnell zu klein, die zweite Spielstätte für 80 Zuschauer lag an der Prinzenallee, die dritte mit 135 Plätzen an der Müllerstraße („gegenüber vom Arbeitsamt“), die vierte und aktuelle nur ein Haus weiter an der Ecke Burgsdorfstraße; vorn ist die SPD beheimatet, an der Seite das Prime Time Theater mit 220 Plätzen und einigen Sitzen aus dem alten Schiller-Theater.
Mittlerweile leitet Oliver Tautorat das Theater allein, Constanze Behrends schreibt aber nach wie vor die Folgen, beide zusammen stehen, neben vier weiteren Ensemblemitgliedern, auch auf der Bühne. Beim Treffen in der benachbarten Prime Time Kantine, die „deutsche und mediterrane Hausmannskost“ anbietet, hat der Chef das Textbuch zur Jubiläumsfolge vor sich liegen. Nach dem Interview geht’s zur Probe. Manche denken ja, im Prime Time Theater wird viel improvisiert, aber da geht es genauso zu wie auf jeder anderen Bühne. Nur viel, viel lustiger.
„Real Sex is only Wedding"
„Ich bin gerne Theaterdirektor“, sagt Tautorat, dem man das aufs Wort glaubt, wenn man ihn einmal in Aktion erlebt hat. Vor Vorstellungsbeginn begrüßt er die Gäste persönlich. Er steht am Eingang und kümmert sich um den Kartenverkauf, dabei schlüpft er in eine seiner Bühnenfiguren. Verwandelt sich in den Dönertaxifahrer Murat. In Prenzlwichser Claudio Fabriggio, der eigentlich Klaus Faber heißt und davon träumt, einmal an der Volksbühne zu inszenieren. Oder in seine Paraderolle des lispelnden, geistig etwas schlichten, aber sympathischen Postboten Kalle. Das ist der mit der legendären Vokuhila-Friseur.
Auf der Bühne stehen weitere Figuren wie Mushido, der Rapper aus Zehlendorf, die Friedrichshainis, „Scheißegal“ heißt der größte Hits der Band aus dem gleichnamigen Bezirk, die sächselnde Arbeitsamtsleiterin Heidemarie Schinkel – deren Kinder Walter und Ullrich nicht von Ehemann Ahmed, sondern von Kalle stammen –, die Kiezschlampe Sabrina oder Weddings Bürgermeisterin Eische Alachdemir. Weil es in GWSW (Titelsong: „Mitte is schitte/Prenzlberg is Petting/ Real Sex is only Wedding“) auch um den ewigen Kampf zwischen den grundehrlichen Weddigern und den lebensbewussten Prenzlauer-BergBewohnern geht und sich der Kiez dort durch die Gentrifizierung stark wandelt, gibt es immer wieder neue Figuren wie die Aroma- Therapistin Theresa Tömmle oder einen Männerstillgruppen-Leiter.
„Alle Figuren, die auf der Bühne gespiegelt werden, sitzen auch im Publikum“, sagt der Chef. Aufs Publikum lässt er nichts kommen, das steht beim Prime Time Theater ganz oben. Und mischt sich gern mal ein, mit Mails oder Einträgen ins Gästebuch. Wenn Stammgäste anmerken, dass die Folgen zu gag-lastig geworden sind, dann wird das ernst genommen. Tautorat ergänzt das mit einen Bäckerei-Vergleich: „Wenn die Leute Schrippen haben wollen, biete ich doch auch keine Vollkornbrötchen an.“
Die Verneigung vor dem Publikum hat natürlich auch damit zu tun, dass sich die private Bühne über den Kartenverkauf finanzieren muss. Und jahrelang mit einer Auslastung von über 90 Prozent kalkulieren musste, sehr zum Leidwesen des Bankberaters. Den Kampf ums Publikum haben die Primetimer schnell gewonnen, den um die Förderung erst nach zehn Jahren und einigen, von diversen Jurys abgelehnten Anträgen, obwohl nur Uraufführungen gespielt werden: Im Doppelhaushalt 2014/ 15 bekommt das Weddinger Theater nun, übrigens das einzige im Bezirk, einen Zuschuss von 120.000 Euro pro Jahr. Aus dem Fördertopf für Unterhaltungstheater, aus dem auch die Kudammbühnen und das Schlossparktheater in Steglitz mit – im Vergleich zu den Staatstheatern oder auch manchen Off-Bühnen – vergleichsweise bescheidenen Zuschüssen unterstützt werden.
Format nach Essen exportiert
Die Förderung durch den Senat ist eine Anerkennung der Arbeit, der erfolgreichen Professionalisierung. Das Format wurde gerade ins Ruhrgebiet exportiert, am kommenden Dienstag und Mittwoch wird die erste Folge von „Gutes Essen – Schlechtes Essen“ als Gastspiel gezeigt. Rund 45.000 Zuschauer kamen im vergangenen Jahr, gespielt wird von donnerstags bis montags, die Sommerpause ist kurz, das Ensemble fest angestellt. Eine Folge läuft momentan fünf Wochen, anfangs wechselte das Programm im ZweiWochen-Rhythmus, künftig sollen die Schauspieler eine Folge pro Jahr pausieren, um mal etwas anderes machen zu können.
Auch inhaltlich gönnt sich das Prime Time Theater gelegentlich eine Auszeit. Dann gibt es Kinoparodien wie eine natürlich im Wedding angesiedelte James- Bond-Persiflage mit Tretbootverfolgungsjagd auf dem Plötzensee. Oder wie zuletzt eine Bühnenversion von „Harry und Sally“. Damit „sprechen wir eher das klassische Theaterpublikum an“, sagt Tautorat. Das Konzept scheint aufzugehen. Die romantische Komödie wird im Februar wieder aufgenommen.