Es soll inzwischen Menschen geben, die an die Existenz eines geheimen skandinavischen Jazz-Versuchslabors glauben, wo Sängerinnen wie Silje Nergaard, Rigmor Gustafsson oder Rebekka Bakken als Antwort auf amerikanische Möchtegern-Diven herangezüchtet werden. Bei Viktoria Tolstoy indes kommt man nicht direkt auf die Idee, dass sie aus dem Dunstkreis des Elches stammt. Sie trägt einen großen Namen; und in der Tat - sie ist die Ururenkelin des russischen Romanciers. Aber wenn man sie so sieht im A-Trane, mit ihrem strahlend blonden Schopf und den blitzblauen Augen, und sie dann noch hört mit dieser perfekten pop-affinen Stimme, weiß man: Sie kommt aus Schweden.
All die Tragik und Leidenschaft des russischen Vorfahren hat sich bei ihr irgendwie herausgemendelt; übrig geblieben ist eine nordische Kühle mit einem stillen Soul-Glühen unter der Oberfläche. Zusammen mit ihrem Begleit-Trio singt Tolstoy liebreizende Stücke, die Landsmann Esbjörn Svensson für sie geschrieben hat. Wer Svenssons phänomenale Gruppe E.S.T. kennt, weiß, dass der Pianist bessere Nummern verfertigen kann. Aber auch seine B-Ware ist noch ganz hübsch anzuhören.
Nur zeigt das Material gewisse Ermüdungserscheinungen. Weil man mittlerweile ein wenig übersättigt ist von dieser Musik, die die bittere Pille des Jazz in einen süßen Brei aus Pop einlegt. Tolstoys Lieder von einsamen Menschen, Spießer-Liebesglück und Sommergefühlen lassen merkwürdig unberührt. Dabei stimmt eigentlich alles: die messerscharfe Diktion der Sängerin, der sachdienliche Minimalismus an Klavier (Jacob Karlzon), Kontrabass (Hans Andersson) und Schlagwerk (Pater Danemo), der Mut zu Blues-Ausbrüchen. Doch nix ist mit Krieg und Frieden, mit Attacke und der Stille nach dem Schuss. Die Wohlgefälligkeit obsiegt. "Schön", murmelt ein A-Trane-Gast in sein Weinglas. Man könnte auch sagen: schön langweilig.
Josef Engels