Geschichte

Mielkes mafiöse Methoden

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Sven Felix Kellerhoff

Der "Blitz" traf Wilhelm van Ackern am 24. März 1955, kurz nach 22.30 Uhr - in Form von K.O.-Tropfen in frisch gebrühtem Bohnenkaffee. Der vermeintliche Informant Fritz Weidmann hatte den 39-jährigen Fotohändler in eine konspirative Wohnung in der Kreuzberger Gneisenaustraße gelockt und ihm dort den vergifteten Kaffee serviert.

Nach wenigen Minuten wurde van Ackern übel; gestützt von Weidmann verließ er die Wohnung. Doch auf der Straße erwartete ein weiterer Mann die beiden mit einem Wagen. Wilhelm van Ackern wurde im Schutze der Dunkelheit hineingestoßen und über die noch offene Sektorengrenze von West- nach Ost-Berlin ins Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen gefahren. Erst neuneinhalb Jahre später, teilweise verbüßt in der berüchtigten DDR-Sonderhaftanstalt Bautzen II, kam er frei und durfte zurück nach West-Berlin.

"Blitz" lautete der Codename für die spektakulärste Verhaftungs- und Entführungsaktion, die das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) je organisiert hat. Mehr als 500 Menschen wurden festgenommen, darunter echte, vor allem aber angebliche Agenten und Spione. Wessen das MfS nicht auf DDR-Territorium habhaft werden konnte, der wurde eben aus dem Westen entführt. Van Ackern war tatsächlich ein Agentenführer der "Organisation Gehlen"; allerdings wusste er um seine Gefährdung und betrat daher niemals den Machtbereich der SED. Also wurde er betäubt und verschleppt

Kommende Woche jährt sich die Gründung des DDR-Geheimdienstes zum 60. Mal: Am 8. Februar 1950 hatte das ostdeutsche Scheinparlament "Volkskammer" ohne Diskussion innerhalb weniger Minuten eines der kürzesten Gesetze der deutschen Rechtsgeschichte verabschiedet - es umfasst gerade einmal 48 Wörter: "Paragraf 1: Die bisher dem Ministerium des Innern unterstellte Hauptverwaltung zum Schutze der Volkswirtschaft wird zu einem selbstständigen Ministerium für Staatssicherheit umgebildet. Das Gesetz vom 7. Oktober 1949 über die Provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik (Gesetzblatt S. 2) wird entsprechend geändert. Paragraf 2: Dieses Gesetz tritt mit seiner Verkündung in Kraft."

40 Jahre lang, von der Gründung bis zu ihrer schrittweisen Auflösung zwischen Dezember 1989 und März 1990, war die Staatssicherheit der wichtigste Machtgarant der SED-Herrschaft in der DDR. In dieser Zeit wucherte der Apparat immer mehr, bis schließlich mehr als 91 000 hauptamtliche Mitarbeiter für das MfS tätig waren. Dieses Heer betreute eine Schattenarmee mit189 000 "Inoffiziellen Mitarbeitern" (IM). Statistisch gesehen kam in der DDR auf 55 erwachsene Bürger ein Vollzeit- oder Teilzeit-Stasi-Mann. Zum Vergleich: Im kommunistischen Polen lag das Verhältnis bei 1500 zu eins.

Der Apparat hat ungezählte Verbrechen zu verantworten. Darin folgte er seinen sowjetischen Vorbildern, der Tscheka (stolz nannten sich Stasi-Leute "Tschekisten") und dem KGB. Vor allem aber prägte ein Mann das kriminelle Gebaren des MfS: Erich Mielke hatte sich schon als junger Mann 1931 als Attentäter in Berlin bewährt, als er im Auftrag der KPD zusammen mit einem Mittäter zwei Berliner Polizeioffiziere erschoss. Der Doppelmörder konnte flüchten und "bewährte" sich im Spanischen Bürgerkrieg, als er stalinistische Säuberungen in den eigenen Reihen durchführte. Im Sommer 1945 kehrte er nach Berlin zurück und übernahm sofort eine führende Position in der neu eingerichteten Polizei - interessanterweise in jenem Gebäude, das bis 1990 Sitz und Postanschrift der Staatssicherheit sein sollte. Rasch stieg Mielke an die Spitze der politischen Polizei der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR auf. Auf sowjetischen Druck musste er allerdings 1950 und 1953 zweimal anderen Männern die Leitung des MfS überlassen; doch war er als zweiter Mann von Anfang an der operative Kopf. Erst 1957 erreichte er sein Ziel und wurde als Minister für Staatssicherheit der unangefochtene Chef des ostdeutschen Geheimdienstes.

Dessen Leute pfuschten in das Leben von Millionen DDR-Bürgern hinein, zerstörten berufliche oder private Hoffnungen und zersetzten routinemäßig ganze Familien. Außerdem schädigte die Stasi im Laufe der Jahrzehnte Hunderttausende Menschen in der SED-Diktatur vorsätzlich, brach unangepasste Charaktere mit psychischem Druck. In jedem DDR-Bezirk unterhielt das MfS eigene Untersuchungshaftanstalten, in Potsdam zum Beispiel in der Lindenstraße 54/55 (Titelbild). In Berlin gab es neben der Zentrale in Lichtenberg die Stasi-Bezirksverwaltung Berlin, die bis 1985 in einem ehemaligen Krankenhaus an der Prenzlauer Allee und danach in einem 100 Millionen DDR-Mark teuren Neubau am Tierpark Friedrichsfelde amtierte, und das große Sperrgebiet in Hohenschönhausen, wo neben einem Gefängnis auch das streng geheime NS-Archiv der Stasi und technische Abteilungen saßen.

Neben der alltäglichen Unterdrückung stehen die schweren Gewalttaten des MfS; sie umfassen praktisch alle Paragrafen des DDR-Strafgesetzbuches. So verschleppten Stasi-Kommandos im Laufe der Zeit mindestens 500, vielleicht aber auch bis zu tausend Menschen in die DDR - westliche Agenten, Überläufer aus den eigenen Reihen und SED-Kritiker vor allem. Einige von ihnen, zum Beispiel der vormalige Volkspolizei-Chef Robert Bialek, überlebten die Verschleppung nicht; andere, wie die "Verräter" Paul Rebenstock und Sylvester Murau, wurden nach manipulierten Prozessen hingerichtet.

Ein juristisch verbrämter Mord war die Hinrichtung des MfS-Hauptmanns Werner Teske 1981. Er hatte mit dem Gedanken gespielt, in den Westen überzulaufen, allerdings nie einen konkreten Versuch dazu unternommen. Obwohl selbst das scharfe DDR-Strafrecht die Todesstrafe nur für vollendeten schweren Landesverrat vorsah, den Teske unzweifelhaft nicht begangen hatte, wurde er im Leipziger Gefängnis durch Genickschuss getötet.

Auch direkte Mordanschläge beging die Stasi. So lauerte 1976 ein Spezialkommando der Stasi, die "Einsatzkompanie der Hauptabteilung I" auf westlicher Seite der innerdeutschen Grenze dem Fluchthelfer Michael Gartenschläger auf. Er wollte dort eine Splittermine vom Typ SM-70 abmontieren, die berüchtigte "Selbstschussanlagen". Vier Männer der Einsatzkompanie erwarteten ihn und eröffneten sofort das Feuer, als der langjährige politische Gefangene an den Grenzzaun heranschlich. MfS-Generalleutnant Karl Kleinjung, der Chef der Hauptabteilung I, hatte zuvor befohlen, "den oder die Täter festzunehmen bzw. zu vernichten". Auch der Schweizer Fluchthelfer Hans Lenzlinger wurde wohl im Auftrag des MfS 1979 in seiner Züricher Wohnung erschossen. Vielleicht war Bruno Beater, der ranghöchste Stellvertreter Mielkes und Experte für "nasse Jobs", in den Anschlag verwickelt; aufgeklärt wurde dieser Mord aber nie.

Nicht das befohlene Ziel erreichten dagegen Mordanschläge gegen andere Fluchthelfer. Kay Mierendorff, der Hunderten DDR-Bürgern gegen fünfstellige Summen in die Freiheit verhalf, bekam im Februar 1982 eine Briefbombe zugeschickt, die ihn schwer verletzte und bleibende Schäden hervorrief.

Einen anderen "Hauptfeind" der SED, den Fluchthelfer Wolfgang Welsch, vergiftete ein in seinen Kreis eingeschleuster Stasi-Agent im Sommer 1981 mit dem extrem toxischen Schwermetall Thallium; den Tod von Welsch Ehefrau und ihrer Tochter nahm der Stasi-IM billigend in Kauf.

Geplant, aber wohl nicht ausgeführt worden sind Mordanschläge auf Rainer Hildebrandt, den Kopf der DDR-kritischen "Arbeitsgemeinschaft 13. August", die von ihrem Haus am Checkpoint Charlie aus das Unrecht der Mauer unnachgiebig anprangerte, und auf den Friedrichshainer Pfarrer Rainer Eppelmann, der unter Erich Honecker zeitweise als "Staatsfeind Nr. 1" der SED galt. Umstritten ist dagegen, ob der DDR-Fußballstar Lutz Eigendorf 1983 von der Stasi durch einen vorsätzlich herbeigeführten Autounfall ermordet wurde. Viel spricht dafür; der letzte Beweis ist in den allerdings bisher nur zum Teil sachgerecht erschlossenen Akten der Birthler-Behörde nicht aufgetaucht.

Noch öfter als potenziell tödliche Methoden wandten die Stasi-Experten allerdings das Mittel der Erpressung an. In verschiedenen Hotels für westliche Touristen in der ganzen DDR waren über den Betten Kameras eingebaut; auf interessante Ausländer wurden gezielt Prostituierte der Stasi angesetzt, um sie später mit kompromittierenden Fotos erpressen zu können.

Das Gleiche versuchte das MfS auch mit Heinrich Lummer, dem West-Berliner CDU-Politiker. Über Jahre hinweg pflegte er eine geheime Beziehung zu einer Ost-Berlinerin, die in Wirklichkeit wohl von Anfang an als Spitzel auf ihn angesetzt war. 1981/82 versuchte das MfS, Lummer zu erpressen, was aber misslang.

Rund 40 Jahre lang garantierte die Stasi als "Schild und Schwert der Partei" die Existenz der SED-Diktatur. Doch manches misslang Mielkes Mannen auch. So erwies sich die Suche nach den Autoren eines anonymen, kritischen Aufrufes als erfolglos, der 1969 an der Humboldt-Universität auftauchte. Trotz enormen Aufwandes und Kosten von rund einer Million DDR-Mark konnte das MfS die Verantwortlichen, die Studenten Rainer Schottländer und Michael Müller, nie überführen. So wurde ihr Protest zum "teuersten Flugblatt der Welt".