Als Schüler musste ich einen Aufsatz zum Thema "Auf dem Friedhof" schreiben. Ich habe dabei die Frage gestellt, was die Toten den ganzen Tag so machen. Muss ja langweilig sein. Ich habe die Note "mangelhaft" bekommen, weil ich das Thema angeblich nicht ernst genommen hatte. Heute weiß ich: Die Toten warten auf Besuch. Also besuche ich sie. Jede Woche trete ich ans Grab eines bekannten Berliners.
Friedhöfe sind begehbare Geschichtsbücher. Orte der Besinnlichkeit und der Inspiration. Geeignet auch für stille Dialoge.
Besuch bei Emilie und Theodor Fontane auf dem Friedhof II der Französischen Gemeinde an der Liesenstraße in Mitte.
Eine Frau, die das Grab eines Angehörigen winterfest eindeckt, macht mich als Fontane-Sucher aus und sagt mit berlinischer Direktheit: "Wenn Se zu Fontane wollen, der liegt vorne gleich rechts. Jenauer jesagt: Da is sein Grab, aber da liegt er nich drin!"
Weiß ich doch, meine Gute. Ist ja bekannt: Wo Fontane draufsteht, ist nicht Fontane drin, wenn man das mal so salopp sagen darf. Die Gräber des großen Romanciers aus Neuruppin und seiner Frau lagen auf jenem Teil des Friedhofs, der vom alliierten Bombenhagel zerstört und anschließend umgepflügt wurde. Eine absurde Vorstellung: Der Dichter (1819 - 1898) als spätes Opfer des Zweiten Weltkrieges.
Aber immerhin: Da ist eine grabähnliche Gedenkstätte für das Ehepaar Fontane. Emilie habe ich eine gelbe Rose mitgebracht. Sie muss eine wunderbare Frau gewesen sein, die in guten wie in schlechten Tagen zu ihrem Mann hielt.
Der Neuruppiner Apothekersohn war ja nicht sein Leben lang der "Superstar" der Berliner Gesellschaft. Es gab Zeiten, in denen konnte er als Zeilenschinder für Gazetten nicht mal für die Monatsmiete sorgen. Aber da war immer Emilie, die alles richtete, die Kinder groß zog und noch dafür Zeit fand, ihren bei anhaltendem Nichterfolg zur Melancholie neigenden Mann wieder aufs Gleis zu stellen: Abfahrt Zukunft. Ob Sie ihm wohl seine Seitensprünge verziehen hat?
Für Theodor Fontane lege ich eine gelbe Chrysantheme aufs "Grab". Aber ich bringe ihm eine Nachricht mit: "Stellen Sie sich vor, verehrter Herr Fontane", sage ich, "man hat gerade nach Ihnen einen Fisch benannt. Es gibt ihn nur in Ihrem geliebten Stechlinsee. Er heißt Coregonus fontanae, auf gut Deutsch Fontanemaräne!
Pause. Dann höre ich ein Gekicher. Emilie und Theodor sind höchst amüsiert. Theo als Fisch auf dem Tisch. Also, nein...
"Die Verpflegungsfrage", ruft er mir zu, "ist für den Kulturmenschen eigentlich das Wichtigste. Die Gesundheit hängt gewiss dran und fast auch die Moral..."
Ja, er war ja immer schon nicht nur ein Schöngeist, sondern auch ein Genießer aus Passion. "Wenn man die Wahl hat zwischen Austern und Champagner, so pflegt man sich in der Regel für Beides zu entscheiden", hat er mal gesagt.
Ob man ihn den "verhungern lassen wolle?", fragte Fontane am 20. September 1898 sein Dienstmädchen abends gegen halb neun in seiner Wohnung an der Potsdamer Straße 134. Da wurde schnell der Tisch gedeckt und gegessen. Der Dichter gönnte sich einen Gilka-Kümmel. Eine halbe Stunde später war er tot. Er starb so, wie er es sich gewünscht hatte: ohne Krankenlager, ohne Krampf, überrascht und überraschend.
Von wehmütiger Feierlichkeit war in den Jahren der Berliner Mauer am Fontane-Grab wenig zu spüren. Es lag im DDR-Grenzgebiet und durfte nur mit einer Sondergenehmigung besucht werden.
Der Berliner Feuilletonist Heinz Knobloch, der 1978 zum 80. Todestag des Dichters das Grab besuchte, berichtete, dass er im Vorfeld 21 Telefonate führen musste, bevor ihm der "Stellvertretende Minister für Nationale Verteidigung und Chef der Politischen Hauptverwaltung der Volksarmee", Waldemar Verner, die Erlaubnis erteilte.
Was hätte Fontane zu diesem Akt des Wahnsinns gesagt? Vielleicht hätte er den Alten Fritz zitiert: "Das muss man nicht beachten..."
Wenn Sie das Ehepaar Fontane besuchen wollen, hier ein paar Hinweise: Aus bautechnischen Gründen ist der Eingang Liesenstraße 7 nicht auf Anhieb zu erkennen. Er liegt gegenüber des Hauses Nummer 12. Gehen Sie in Richtung der kleinen Kapelle. Vor einer Tanne biegen Sie rechts rein. Dann sehen Sie ein Hinweisschild und das Grab, das eigentlich ja keins ist. Aber Fontane ist überall. "Alles kommt auf die Beleuchtung an", hat er gesagt.
In der nächsten Woche: Bernd Philipp besucht "Hänschen" Rosenthal