Als Schüler musste ich einen Aufsatz zum Thema "Auf dem Friedhof" schreiben. Ich habe die Frage gestellt, was die Toten eigentlich den ganzen Tag so machen. Muss ja langweilig sein. Ich habe ein "mangelhaft" bekommen, weil ich das Thema nicht ernst genommen haben soll. Heute weiß ich: Die Toten warten auf Besuch. Also besuche ich sie. Jede Woche trete ich ans Grab eines bekannten Berliners.
"Det mit dem Sterben passt mir jetze aber gar nich", hat sie mal gesagt. Das ist zwölf Jahre her. Da hatte sie den Kampf gegen den Lungenkrebs schon aufgegeben und ihre besten Freunde zu wenig Trauer und viel Schampus verdonnert. Den hat sie sogar noch selbst gekauft . . . Ich stehe am Urnengrab von Helga Hahnemann auf dem "Landeseigenen Friedhof VII" im Pankower Ortsteil Wilhelmsruh. Ein kleiner, grau-grüner Stein verkündet: "Ruhestätte Familie Hahnemann". Die Tochter, gerade 54 Jahre alt, war ihrem Vater gefolgt.
Eine gelbe Rose habe ich ihr mitgebracht, weil ich weiß, dass sie Rosen liebte. Helga Hahnemann, von Freunden schlicht "Henne" und von Fans auch "Big Helga" genannt, war in der DDR ein Star und machte auch die Wessis janz verrückt. Jeden zweiten Sonnabend machte sie im Berliner Rundfunk "Top(p)-Musike" und Lord Knud und später Horst Wendt vom Rias ganz schön Konkurrenz. Hatte die eine freche Schnauze!
"Ich muss Ihnen etwas gestehen", sage ich etwas schüchtern zu "Big Helga". Und sie spontan: "Na, denn schieß mal los, mein Rosenkavalier." "Ja", druckse ich rum, "also, wie soll ich es sagen: Als ich Sie die ersten Male im Radio hörte, dachte ich, dass Sie ne ganz Schlanke sind." Jetzt vernehme ich ein Kichern: "Na, so'n richtiger Schlanker biste ja ooch nich grade . . ." Hätte ich doch bloß geschwiegen. Wollte ja auch nur sagen, dass ich sie richtig verehrt habe mit ihrer zärtlichen Berliner Ruppigkeit. Und dass ich immer kräftig mitgesungen habe: "Wo is mein Jeld nur jeblieben?", "Tausendmal hab ick Berlin verflucht", "Berlin, du bist die größte Quasselstrippe vonne Welt".
Auch "Jetzt kommt dein Süßer". Der Song des Komponisten Arndt Bause, vor 20 Jahren veröffentlicht, wurde schnell auf die Interpretin umgemünzt: "Jetzt kommt die Süße . . ." Aber das ist alles nur Grabgemurmel. Apropos: Das Grab ist, wenn man das ohne Vorwurf sagen darf, dezent geschmückt. Rechts stehen ein paar Herbstblumen, die ihre Zeit hinter sich haben. Und auf dem Stein liegt eine Rose, abgelegt vermutlich im September.
Einmal im Jahr vergibt die "Super Illu", die das Wirken der DDR- Unterhaltungskünstler nostalgisch begleitet, die "Goldene Henne" - zur Erinnerung an die Sängerin und Komikerin, die ja selbst gern gefeiert hat und Flüssiges vorzugsweise aus Champagnergläsern genoss. Kein Pfarrer. Kein Redner. Keine Trauermusik - das war Helga Hahnemanns letzter Wunsch. "Aber 'n Gläschen Schampus müsst ihr schon niedermachen an meinem Grab, und denn Schluss mit det janze Theata!" Das sagte sie zu ihrer besten Freundin Ulla Klingbeil kurz vor ihrem Tod. Die zwei waren Schwestern im Geiste und nannten sich liebevoll "Kommunistenkuh" und "Kapitalistenzicke". So richtig gebechert wurde dann aber doch erst nach der Beisetzung in der bescheidenen Bleibe der "Kapitalistenzicke" am Wannsee.
"Mensch, Henne", sage ich, "Sie sind ja ziemlich allein hier, rechts und links liegt ja niemand - wo Sie doch immer so gern jemanden zum Quatschen hatten." "Wat soll ick denn da machen?", antwortet "Big Helga", "die waren halt ooch nich mehr die Jüngsten - sind verstorben. Aber vielleicht kommt ja mal wieder so'n attraktivet Mannsbild. Für den singe ick dann: Hier liegt die Süße, dein kleinet Engelein . . ." Kann ja heiter werden.
Wenn Sie Helga Hahnemann auch besuchen wollen: Vom Eingang Uhlandstraße kommend, gehen Sie rechts an der kleinen Holzkapelle vorbei und geradeaus weiter. Dann sind es noch etwa 20 Schritte. Die Lieblingsblumen der "Henne": Freesien, Rosen, Kornblumen und Männertreu.
Nächste Woche lesen Sie: Bernd Philipp besucht Theodor Fontane.