Morgenpost-Redakteure entdecken die Autos ihrer Kindheit neu. Teil eins unserer Sommerserie gilt dem wunderbaren Kadett A

Es war einmal ein kleiner Junge, drei, höchstens vier Jahre alt. Jeden Tag wartete er darauf, dass sein Vater von der Arbeit kam. Und wenn der kleine Junge Glück hatte, dann stellte der Vater den Motor seines Opel Kadett gar nicht erst ab, sondern fuhr mit seinem Sohn noch „eine Runde ums Karree“.

Wir wohnten in Flensburg, binnen zwei Minuten hatte mein Vater mit dem Auto den Stadtrand erreicht und fuhr über kleine Landstraßen Richtung dänische Grenze. Es war hügelig, die Felder waren gesäumt von Knicks, unübersichtliche Kurven gab es und im Sommer dunkle Schattengassen. Ich genoss diese Fahrten, vor allem wenn mein Vater das Auto bergab rollen ließ und theatralisch ausrief: „Oh, ich kann nicht bremsen!“

Das alles parkte sehr tief in meinem Gedächtnis, als dieser 50 Jahre alte Opel Kadett vor mir stand und viele Erinnerungen wieder lebendig machte. Nein, es war nicht genau das Auto, das mein Vater besessen hatte, sondern ein Schaustück aus der Opel-Sammlung. Aber das ändert ja nichts. Die Farbe war gleich, und dann diese charakteristische Kastenform – das ultimative Auto. Das Auto meines Vaters.

Auch der Großvater fuhr Opel

Wir sind eine Autofahrerfamilie. Nicht wie die Stucks oder Daimlers, aber wenn ich in den Stammbaum schaue, ist es keine Überraschung, dass ich hauptberuflich über Autos schreibe. Mein Vater war Vielfahrer, er reiste als Vertreter für Eisenwaren über die Landstraßen – Autobahnen sind ihm immer fremd geblieben – und verkaufte den Tischlern des nördlichen Schleswig-Holsteins Baubeschläge aller Art. Und der Vater meines Vaters war Chauffeur, erst ebenfalls im Opel, danach im Horch. Erst für Industrielle, später auch für Parteifunktionäre, er kam bis in die Ukraine, ich denke nicht so gern darüber nach. Opa war jedenfalls sehr deutsch.

Und Opa war der Meinung, dass sein Sohn die Chance ergreifen solle, nicht nur ein kaufmännischer Angestellter zu sein, sondern ein „Reisender“. Also stand eines Tages der Kadett vor der Tür. Meine Eltern wissen nicht mehr, wie viel er genau kostete. Aber da mein Vater nur 600 Mark im Monat verdiente, wäre ohne Opas Hilfe der neue Opel so schnell nicht drin gewesen.

Der Kadett aus der Opel-Sammlung ist das Modell „L“ (für Luxus), und es hat ein dunkelblau lackiertes Dach zur weißen Karosserie, außerdem ein Radio, von Blaupunkt. 1963 waren für diesen Kadett L laut Opel 5775 Mark zu zahlen. Heute mag ein vergleichbar großer Corsa das Vierfache kosten, aber wenn man den ersten Kadett der Neuzeit und den aktuellen Corsa vergleicht, weiß man, dass früher nicht alles besser war. Lassen wir den technischen Fortschritt (Airbags, ABS, ESP etc.) einmal beiseite und unterstellen, dass sich das Auto in seinen Eigenschaften nie geändert hätte, nur im Preis. Selbst dann ist – angesichts der deutlich gestiegenen Einkommen – ein Corsa des Jahrgangs 2013 (ab 11.890 Euro) ein Schnäppchen gegen den Kadett von damals.

Andererseits kann man die Autos nicht wirklich vergleichen. Das bemerke ich schon bei meiner ersten Ausfahrt: Die Leute gucken. So einen Opel sehen sie nicht alle Tage, und es scheint, als halten sie ein wenig Respektabstand. Manche Beifahrer fotografieren auch mit dem Handy. Ob sie wissen, dass der Umgang mit einem 50 Jahre alten Kadett auch ein bisschen anstrengend sein kann? Eine eher unpräzise Lenkung (kein Servo), weiche Sitze ohne Seitenhalt. Und wenn ich so zügig wie gewohnt aufs Gaspedal trete, kann sich der kleine Motor schon mal verschlucken.

Ich habe bei meinen Erkundungsfahrten mit dem Kadett versucht, mich daran zu erinnern, wie früher der Verkehr war. Natürlich weiß ich, dass in den 60er-Jahren weniger Autos auf der Straße fuhren, aber eine bewusste Erinnerung habe ich nicht. Die zaghaft agierenden Bremsen des Kadett weisen allerdings darauf hin, dass damals jedes Auto mehr Platz gehabt haben muss. Die Abwesenheit der Sicherheitsgurte, an die ich mich die ganze Woche mit dem Kadett nicht gewöhnen konnte – immer wieder griff ich vergeblich nach hinten –, hat aber Bilder aus meiner Kindheit in die Gegenwart geholt. Ich sehe jetzt wieder, wie mein jüngerer Bruder und ich uns auf der Rückbank um den mittleren Platz stritten, weil man zwischen den Sitzen stehend (!) so schön nach vorn gucken konnte. Wie wir gemeinsam auf den Polstern knieten und hinten herausschauten. Wie ich bei den Fahrten ums Karree vorne sitzen durfte.

Da war mein Vater ziemlich locker. Später, als wir größer wurden und dem Kadett ein Mercedes 200 D, ein Mazda 818, ein VW Passat folgten, durften mein Bruder und ich sogar immer mal mit der linken Hand ein bisschen lenken. Fand meine Mutter nicht komisch, hat uns „Männer“ aber nicht gestört. Nur als wir den Führerschein hatten, durften wir mit dem Auto meines Vaters nichts anstellen. Mein Vater verlieh sein Auto nicht – inzwischen war es ein Mazda 626 – , da gab es keinen Verhandlungsspielraum. Andererseits übte er mit mir, als ich noch Fahrschüler war, und ich durfte eines Sonntags sogar ans Steuer, er rechts daneben. Plötzlich sahen die Landstraßen rund um Flensburg unheimlich aus, aber mein Vater sagte vor unübersichtlichen Kurven und Kuppen einen Satz, den ich bis heute beherzige: „Dahinter kommt keine Treppe.“ Zügig weiterfahren bedeutet das, wird schon gehen.

Zügig war ein Lieblingswort meines Vaters, wenn es ums Autofahren ging. Zügig bedeutet: Ich rase nicht, aber ich gebe schon ein bisschen Gas. Allerdings war aus den 40 PS des kleinen Kadett nicht allzu viel herauszuholen. In den ersten zwei Gängen zieht das Motörchen ganz munter los, aber dann braucht man Geduld. Spitze 120, heißt es, aber ich habe das nicht riskiert. Dafür läuft der Vierzylinder relativ leise. Nicht so wie heute ein Corsa, aber für die 60er-Jahre und ihre schlecht gedämmten, weichen, den Schall gut leitenden Karosserien war der ruhige Motor ein echter Vorzug.

Opel baute damals die besseren Autos als VW. Ein Kadett A ist einem Käfer überlegen: mehr Platz, mehr Leistung, mehr Komfort, das allerdings auch zu höherem Preis. Heute ist Opel weit hinter VW zurückgefallen, auch erlöst man längst nicht mehr dasselbe Geld für vergleichbare Modelle. Ob Opel jemals wieder auf einen grünen Zweig kommt? Ich wünsche es mir, aber mehr aus Sentimentalität – kein anderes Industrieprodukt weckt Gefühle wie ein Auto. Der bekannte Automobilwirtschaftler Ferdinand Dudenhöffer sieht das nüchterner: Die Entscheidung, Opel nicht in China auf den markt zu bringen, verschärfe die Lage der Marke. „Jeder größere Mittelständler in Deutschland hat eine prägnantere Wachstumsstrategie als Opel.“

Zu fünft in den Urlaub

Ich habe neulich meine Eltern besucht, aber nicht mit dem Opel – es sind 460 Kilometer, das wollte ich uns beiden nicht antun. Mein Vater ist gerade 78 Jahre alt geworden, und wir haben uns über das Fahren mit dem Kadett unterhalten: Es ging um die hakelige Viergang-Schaltung, die schwierige Startprozedur – ziehe ich den Choke, oder trete ich lieber fünf, sechs, sieben Mal das Gaspedal durch? –, das dürre Lenkrad und den bemerkenswerten Sitzkomfort auf den sehr weichen Polstern. Außerdem erinnerten wir uns an Urlaubsfahrten mit der ganzen Familie; die Oma war auch noch dabei, wir waren also zu fünft, wie war das nur möglich?

Ganz leicht: Ein Auto war 1965, als der Kadett in unsere Familie kam (zwei Jahre vor dem ersten Fernseher), kein Massenartikel, sondern etwas Besonderes. Darum haben sich die Ankers aus Flensburg, wie viele andere Familien, den Beschränkungen ihres Wagens gern unterworfen. Man war froh, ihn zu haben, denn er fuhr, allein das war wichtig, überall hin. Nicht nur ums Karree.