Gedenken an Terror-Opfer

Schon jetzt ist Gauck gefühlter Bundespräsident

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Torsten Krauel und Freia Peters

Foto: Getty Images / Getty Images/Getty

Bisher ist Joachim Gauck ist nur Kandidat. Als Bürger besuchte er Opferfamilien und gab sich dabei recht staatsmännisch. Mit Taten statt Worten macht er deutlich, dass er ebenso für Zuwanderer da sein will wie Christian Wulff.

Manchmal ist politisches Vertrauen auch eine Frage der Geste zum richtigen Zeitpunkt. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, hat sehr positiv darauf reagiert, dass Joachim Gauck sich am Donnerstag nach dem offiziellen Gedenkstaatsakt für die Opfer der Neonazi-Terroristen noch die Zeit für ein eigenes Treffen mit den Angehörigen der Opferfamilien und mit dem türkischen Botschafter Hüseyin Avni Karslioglu genommen hat. Gauck hatte den Besuch auch für ein privates Telefonat mit dem türkischen Präsidenten Abdullah Gül genutzt.

Kolat revidierte nach der Begegnung seine Haltung. Er hatte wegen einer früheren Äußerung Gaucks über Thilo Sarrazin bezweifelt, dass der parteilose Pfarrer eine gute Wahl sei. Kolat sagte Morgenpost Online: „Ich habe kurz nach der Gedenkfeier mit Herrn Gauck gesprochen, und er war sehr liebevoll und sehr berührt. Ich habe allen Grund anzunehmen, dass Joachim Gauck das Thema Integration – ganz im Sinne Christian Wulffs – als eines der wichtigsten Themen seiner Amtszeit annehmen wird.“

Gauck habe mit seinem Auftritt einen großen Schritt zur Vertrauensbildung getan. „Die Angehörigen der Opfer fühlten sich sehr ernst genommen.“

Gauck suchte persönliches Gespräch mit Opfer-Familien

Die Begegnung mit den Opferfamilien dauerte mehrere Stunden und fand im „Türkischen Haus“ statt, nicht weit vom KaDeWe und der CDU-Bundeszentrale entfernt. Das kurze Telefonat mit dem türkischen Staatspräsidenten sei sehr freundlich verlaufen, hieß es. Gauck habe mit allen Familien, die bei der Mordserie der neonazistischen Terrorgruppe einen Angehörigen verloren hatten, das persönliche Gespräch gesucht und sei von Tisch zu Tisch gegangen.

In einer Ansprache an die Familienangehörigen betonte Gauck, dass Neonazismus in Deutschland keine Chance habe. Der Staat würde sich wehren, auch die Bürger der Bundesrepublik würden sich der „braunen Brut in den Weg stellen“. Gauck hielt die Rede nicht als designierter Bundespräsident, sondern „als Bürger und Vorsitzender des ,Vereins gegen das Vergessen’“.

Viele Hinterbliebene reagierten bewegt auf den Auftritt. Gamze Kubasik, die Tochter des im April 2006 von den NSU-Terroristen ermordeten Dortmunder Kioskbesitzers Mehmet Kubasik, will Gauck nun auf der Bundesversammlung am 18.März zum Präsidenten wählen. Sie wurde von den Grünen als Wahlfrau nominiert. Der grüne Fraktionschef der NRW-Grünen, Reiner Priggen, verzichtet für Kubasik auf sein Mandat in der Versammlung.

"Ein Zeichen dafür, dass er für die Türkischstämmigen da sein wird"

Ahmet Külahci, der Redaktionsleiter der türkischen Tageszeitung „Hürriyet“ in Berlin, sagte ebenfalls, von der türkischstämmigen Gemeinschaft sei Gaucks Besuch im „Türkischen Haus“ und sein Gespräch mit den Hinterbliebenen sehr positiv aufgenommen worden.

„Seine kurze Ansprache haben die Familien als sehr ermutigend empfunden, und Gauck gab das Signal, dass Rechtsextremismus und Integration in Zukunft für ihn ein wichtiges Thema sein werden.“ Gaucks Telefonat mit Staatspräsident Gül sei nicht viel mehr als eine kurze, freundliche Vorstellung gewesen, wenn auch ein wichtiges Signal. Gül wünschte dem designierten Bundespräsidenten Glück und Erfolg bei der Wahl.

Er hoffe, dass die engen persönlichen Beziehungen, die er zu Christian Wulff habe entwickeln können, sich in der Amtszeit Gaucks ebenso gestalten werden. Vor seinem Amtsantritt in Berlin war Botschafter Hüseyin Karslioglu vier Jahre lang der Berater Güls gewesen.

Karslioglu hatte den Staatspräsidenten während dessen Aufenthalt in einem Militärlager zu den Wintermanövern der türkischen Armee angerufen und Gauck anschließend den Hörer hingehalten. „Man hat Gauck ja viel vorgeworfen, bis hin zur Unterstützung Sarrazins, da war sein Auftritt ein gutes Zeichen dafür, dass er für die Türkischstämmigen da sein wird“, sagt Ahmet Külahci.

Komplott gegen Wulff "in den Konservativen Kreisen"?

Der Ressortleiter Außenpolitik des einflussreichen Millionenblattes in Istanbul, Emre K?z?lkaya, enthielt sich am Freitag in seinem Blog noch eines Kommentars zu dem Auftritt. Kizilkaya hatte dort am Vortag scharfe Angriffe gegen Gauck gerichtet.

Die deutsche Presse habe die Vorwürfe gegen Wulff seit langem gekannt und jetzt auf den Abzug gedrückt, weil Wulff alle konservativen Deutschen mit dem Satz über den zu Deutschland gehörenden Islam verstört habe.

Auf diese Weise habe „eine bestimmte Clique in den konservativen Kreisen“ Wulff aus dem Amt gedrängt, „ohne den wahren Grund ihres Unbehagens zu benennen“, und ihn durch Gauck ersetzt. Dieser sei bei Integrationsfragen das exakte Gegenteil von Wulff. Gauck sei als Pastor „sicherlich ein ethischer Puritaner, aber wir wissen, dass Adolf Hitler auch ein Puritaner war“.

Das sei keine „reductio ad Hitlerum“, wie der Skandal um die NSU zeige. „Wir werden sehen, ob Gauck wie Wulff der Präsident aller Deutschen sein wird, oder der Führer einer bestimmten Gruppe“.

Linkspartei will Gauck treffen und streitet über eigenen Kandidaten

In Deutschland sucht derweil auch die Linkspartei Kontakt zum designierten Staatsoberhaupt. Parteichef Klaus Ernst hat Gauck zu einem Gespräch über inhaltliche Fragen mit Vertretern seiner Partei und Fraktion eingeladen. Ernst sagte der „Leipziger Volkszeitung“: „Wir werden Herrn Gauck selbstverständlich einladen. Dann werden auch die Punkte zur Sprache kommen, an denen wir unterschiedlicher Auffassung sind, zum Beispiel seine Pro-Banken-Haltung in der Finanzkrise.“

Am Donnerstagabend hatte die Linkspartei ihren Versuch, eine eigene Persönlichkeit gegen Gauck aufzubieten, zunächst ergebnislos abgebrochen. Im Gespräch waren zuletzt die deutsch-französische Aktivistin Beate Klarsfeld, der Kölner Professor Christoph Butterwegge und die Bundestagsabgeordnete Luc Jochimsen, die wie Gauck bereits 2010 schon einmal kandidiert hatte.

Das Treffen der Linkspartei mit Gauck soll in der kommenden Woche stattfinden. Am Montag stellt sich Gauck zunächst den Spitzengremien von CDU und SPD vor. Am Dienstag wird er die Fraktionssitzungen von SPD, Grünen und der FDP aufsuchen.

Kubicki – mit Gauck "entsteht ein neues Kraftzentrum"

Schleswig-Holsteins FDP-Spitzenkandidat Wolfgang Kubicki, der zu den ersten Befürwortern einer neuen Kandidatur Gaucks gehörte, rechnet mit einer Veränderung des Politikbetriebs durch den designierten Bundespräsidenten: „Es entsteht ein neues Kraftzentrum.“

Gauck werde kraft seiner Persönlichkeit deutlich machen, „dass Deutschland nicht nur über eine Person, nämlich über Angela Merkel, prägend wirken kann“. Die öffentliche Dominanz der Bundeskanzlerin werde abnehmen. „Ich bin sicher, ein Bundespräsident Gauck wird Deutschland gut tun“, sagte Kubicki „Focus online“.

Das Bundesinnenministerium hat am Freitag die voraussichtliche Sitzverteilung in der Bundesversammlung vom 18. März bekanntgegeben. Vorbehaltlich einiger notwendiger Losentscheide in drei Landtagen werden die Unionsparteien 487 bis 490 Sitze haben, die SPD 328 oder 329 und die FDP 136 Sitze.

Die Grünen kommen auf rund zehn Sitze mehr als die Liberalen, die Linke auf rund zehn Sitze weniger als sie. 16 Mitglieder der Bundesversammlung werden sonstigen Gruppierungen angehören, zum Beispiel freien Wählergruppen aus Bayern.