Sie ist wieder da, die Angst vor dem islamistischen Terror. Und sofort erscheinen unbedacht abgelegte Gegenstände auf öffentlichen Plätzen wieder verdächtig. Auf dem Hannoveraner Hauptbahnhof war es eine Tüte, im sächsischen Köthen ein nicht näher bezeichnetes „Behältnis“. In beiden Fällen fürchtete die Polizei einen Bombenanschlag und ließ die Umgebung weiträumig absperren. Sowohl die Tüte als auch das „Behältnis“ wurden gesprengt. Die Folgen waren Verspätungen im Bahnverkehr und Straßensperrungen in der Köthener Innenstadt. Sprengstoff wurde nicht gefunden.
Nicht nur die Menschen, auch die Sicherheitskräfte sind nervös, weil Innenminister Thomas die Maiziére (CDU) vor möglichen Terroranschlägen noch in diesem Monat gewarnt hat. Dabei ist es inzwischen über ein Jahr her, seit al-Qaida erstmals mit Anschlägen in Deutschland drohte. Bislang sind sie ausgeblieben. Doch der Innenminister sagt, er habe konkrete Hinweise. Daher ist die Furcht groß, die Terrororganisation könnte ihre Drohung nun tatsächlich wahr machen - etwas mit einem angeblich geplanten Angriff auf den Reichstag, wie der "Spiegel" am Wochenende berichtet .
Ausgesprochen hatte sie der damals zum erweiterten Führungskreis der al-Qaida zählende Deutsch-Marrokaner Bekkay Harrach. Die Drohung war verknüpft mit der Forderung, die Bundeswehr aus Afghanistan abzuziehen. Mit dem Abzug des letzten deutschen Soldaten werde auch der letzte Mudschahid (Gotteskrieger) aus Deutschland abgezogen. Sollte sich Deutschland anders entscheiden, gebe es ein „böses Erwachen“, warnte Harrach, der im August bei einem US-Luftangriff getötet wurde.
Nur wenige Tage nach dem Harrach-Drohvideo meldete sich Terrorchef Osama Bin Laden selbst. Unter dem Titel „Botschaft an die Völker Europas“ geißelte er die Beteiligung europäischer Staaten am Krieg in Afghanistan. Er rief den Europäern die Anschläge von Madrid und London ins Gedächtnis und suchte diese zu begründen. „Wenn ihr gesehen hättet, wie euer amerikanischer Verbündeter Tausende Taliban in Containern wie Sardinen versammelte, sie dann bis zum Tode einsperrte oder in Flüsse warf, dann hättet ihr die blutigen Ereignisse von Madrid und London nachvollziehen können“, sagte Bin Laden. Obwohl er keine gezielte Drohung gegen Deutschland aussprach, befeuerte er mit seiner Botschaft die Furcht vor Anschlägen weiter.
Wie jede Angst, so stellt auch diese Angst vor dem Terror die Frage nach dem Warum? Warum ausgerechnet Deutschland? Diese Frage haben sich auch die Briten nach den Anschlägen im Juli 2005 und die Spanier im März 2004 auch gestellt.
In der Tat gibt es für die islamistische Terror-Propaganda wenig Angriffspunkte. Deutschland hat sich nicht am Irakkrieg beteiligt und plant einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan ab 2012. Bundespräsident Christian Wulff hat den Islam ausdrücklich als Teil Deutschlands bezeichnet, und Bundeskanzlerin Angela Merkel begrüßt den Bau von Moscheen. Die Regierung schuf einen Integrationsgipfel und eine Islamkonferenz. Deutschland ist damit ein ausgesprochen islamfreundliches Land.
Als solches ragt es über seine europäischen Nachbarn hinaus. In den Niederlanden etwa hetzt der rechtspopulistische Politiker Geert Wilders gegen den Islam. Er sowie die inzwischen in den USA lebende Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali stehen seit Jahren auf den Todeslisten der Terroristen.
Darauf findet sich auch der Name des dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard. Seine Mohammed-Karikaturen befördern seit ihrem Erscheinen im Jahr 2005 den Hass der Islamisten auf Dänemark. Seit langem schon dürsten sie auf Rache.
„Wir haben schon öfter gewarnt: Kreuzritter-Staaten die den Propheten und den Koran beleidigen und entehren - wir werden Rache ausüben zur geeigneten Zeit und an einem geeigneten Ort“, warnte der inzwischen getötete Chef der al-Qaida in Afghanistan, Mustafa Abu Yazid. „Es ist meine letzte Botschaft an die Kreuz-Anbeter in Dänemark...So Allah will werden wir euch vom Boden der Erde ausradieren.“
Bereits in den 1990er-Jahren führten algerische Salafisten einen blutigen Terror-Krieg gegen Frankreich. Vor einiger Zeit hat al-Qaida die Führung dieses Kampfes übernommen. Und mit dem von der Nationalversammlung beschlossenen Burka-Verbot spitzte sich die Situation noch einmal zu.
Daraufhin sandte Osama Bin Laden im Oktober eine Tonbandnachricht an das französische Volk. Frankreich solle sich aus muslimischen Angelegenheiten in Nordafrika heraushalten, seine Truppen aus Afghanistan abziehen und Burka-Verbot rückgängig machen, forderte er. „Wenn ihr zu Unrecht denkt, dass es euer Recht ist, freien muslimischen Frauen das Tragen des Gesichtsschleiers zu verbieten, ist es dann nicht auch unser Recht, eure Männer rauszuwerfen und ihnen die Kehle durchzuschneiden?“, so Bin Laden. „Die Gleichung ist einfach“, sagte der al-Qaida-Chef. „Wenn ihr tötet, werdet auch ihr getötet werden. Wenn ihr Geiseln nehmt, werdet ihr selbst als Geisel genommen. Wenn ihr unsere Sicherheit bedroht, werden wir eure Sicherheit zerstören.“
Solche Drohungen hat es gegen Deutschland noch nicht gegeben. Frankreich nimmt sie zu Recht ernst und erhöhte die Sicherheitsvorkehrungen.
Wütende Reaktionen in den dschihadistischen Internetforen rief das im vergangenen Jahr von den Schweizern in einem Volksreferendum durchgesetzte Minarettverbot hervor. Die angekündigten Abstimmungen über ein Burka-Verbot heizen die Stimmung weiter an.
Großbritannien bleibt durch sein militärisches Engagement in Afghanistan und im Irak und seine enge Bindung an die USA ein potenzielles Angriffsziel. Eine besondere Gefahr entsteht durch die große gewaltbereite Islamisten-Szene in und um London.
Selbst Spanien ist nach den Bombenanschlägen am 11. März 2003 nicht vor erneutem al-Qaida Terror gefeit. Grund dafür ist Spaniens Präsenz in den nordafrikanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Militante Islamisten verlangen die Rückeroberung dieser Gebiete - und wenn möglich die Wiedererrrichtung des ehemals islamischen al-Andalus. „Oh muslimische Nation, es ist nicht vorstellbar für einen Muslim, der den Islam liebt, vom Maghreb zu sprechen, ohne an das von Spanien besetzte Ceuta und Melilla zu denken“, sagt Führer der nordafrikanischen al-Qaida, Abu Mussab Abdel Wadood.
Auch wenn Deutschland vergleichbare Angriffspunkte nicht liefert, kann es vor einem Anschlag nicht sicher sein, warnen die Geheimdienste. Sie unterscheiden zwischen den sich selbst radikalisierenden potenziellen Terroristen und strategisch geplanten Terrorakten. Die Selbstradikalisierung in der Moschee oder im Freundeskreis braucht einen Auslöser für den Schritt hin zur Gewalt. In der Regel ist dies die im Internet verbreitete Propaganda. Doch da findet sich derzeit kaum etwas über Deutschland. Die Propagandafront ruht.
Daher wäre nach Einschätzung der Dienste ein strategisch geplanter Anschlag derzeit am wahrscheinlichsten. Das heißt, ausländische Terroristen dringen ins Land und verüben ein detailliert geplantes Attentat. „Zwar könnte al-Qaida mit einem Anschlag in New York oder London weit aus mehr Anhänger mobilisieren, aber auch eine Aktion in Deutschland würde ihre Wirkung nicht verfehlen“, heißt es in Sicherheitskreisen.
Für die Wahl eines Anschlagsortes sei zudem nicht nur die politische Situation im Land selbst entscheidend, also seine Haltung gegenüber dem Islam. Es komme entscheidend auch darauf an, ob den Terroristen die Sache leicht gemacht werde oder nicht.
Ein weiterer Aspekt ist die Reaktion der Öffentlichkeit. Deutschland gilt als besonders sensibel. Ein Anschlag würde die Gesellschaft vermutlich schwerer erschüttern als dies in Spanien und Großbritannien der Fall war. Die Sicherheitsdienste müssen also eine Vielzahl möglicher Motive einkalkulieren.
Nach langer Zeit erschien am vergangenen Samstag mal wieder ein Beitrag eines Dschihadisten namens Abu al-Hawra Raghad im Internet, der die Wahrscheinlichkeit eines Anschlages in Deutschland thematisierte. „Und was ist geschehen?“, fragt er. „Das deutsche Volk wählte erneut die christlich demokratische Partei der gleichen alten Kriegstreiber, das heißt, die Völker Europas haben ihre Lektion nicht gut genug gelernt, und sie benötigen einen großen Angriff von al-Qaida. Deutschland sollte sich von der Verzögerung der al-Qaida-Anschläge auf Deutschland und Europa nicht täuschen lassen.“ Es sind auch solche Botschaften, die die Angst aufrechterhalten.