Baden-Württemberg

Warum die Grünen der SPD sieben Ressorts überlassen

| Lesedauer: 6 Minuten
M. Kamann

Der grün-rote Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg steht. Beobachter überrascht, welche Macht die kleinere SPD erhält. Doch dahinter steckt grünes Kalkül.

Ich fühle mich nicht von Sozialdemokraten umstellt“, sagte Winfried Kretschmann in gelassener Ironie. Doch wer es weniger entspannt betrachtete, konnte sich bei der Vorstellung des grün-roten Koalitionsvertrags für Baden-Württemberg zunächst wundern, wie viele Ressorts der designierte grüne Ministerpräsident dem Koalitionspartner SPD zugestanden hatte.

Nicht weniger als sieben Ministerien sollen in der Stuttgarter Landesregierung von Sozialdemokraten geführt werden. Und es sind keine unbedeutenden Ressorts, die an die SPD gingen.

Schmid wird Superminister

Um Finanzen und Wirtschaft kümmert sich Kretschmanns Stellvertreter, SPD-Landeschef Nils Schmid, der damit zum Superminister wird. Das Innenressort erhält nach dpa-Informationen der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Landtagsfraktion, Reinhold Gall. Die Justiz soll der SPD-Rechtsexperte im Landtag, Rainer Stickelberger, bekommen.

Auch den wichtigen Bundsrats- und Europaminister stellen die Sozialdemokraten, in Person ihres Landesgeneralsekretärs Peter Friedrich. Hinzu kommen Arbeit und Soziales, das Kultusministerium sowie ein neues Integrationsressort, für das noch keine Namen bekannt sind. Jene „Augenhöhe“ also, welche die um ein Landtagsmandat kleinere SPD zum Verdruss der Grünen eingefordert hatte – die „Augenhöhe“ hat die SPD beim Personal locker erreicht.

Grüne haben trotzdem Mehrheit im Kabinett

Dennoch mochten sich die Grünen nicht aufregen. Verhandlungsteilnehmer aus ihren Reihen verwiesen im Gespräch mit "Morgenpost Online“ darauf, dass erstens Nils Schmid aus seinem Wirtschaftsressort die Energiepolitik an das grüne Umweltressort abgeben musste, so dass die Grünen ein starkes Instrument für die ökologische Modernisierung erhalten. Zweitens müsse die SPD für das neue Integrationsministerium ihre eigenen Ressorts plündern, da es aus Innerem, Kultus und Sozialem zu komponieren sei.

Drittens hätten die Grünen im Kabinett eine Acht-zu-Sieben-Mehrheit: Denn neben ihren vier Fachressorts Umwelt/Energie, Verkehr/Infrastruktur, Wissenschaft/Kunst und ländlicher Raum/Verbraucherschutz erhalten sie das dem Ministerpräsidenten zuarbeitende Staatsministerium, einen Staatssekretär mit Kabinettsrang sowie eine Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung.

Kretschmanns Eigensinn

Über allem steht Ministerpräsident Kretschmann, der hinter den Kulissen deutlich machte, wie groß sein Eigensinn ist. Die Besetzung der den Grünen zustehenden Ressorts behalte er sich selbst vor, und da sei er noch nicht mit allen Erwägungen fertig.

Der frühere Lehrer Kretschmann hat ein ausgeprägtes Autoritätsbewusstsein. Darauf lässt sich auch zurückführen, dass der in einer wuseligen Pressekonferenz ohne Pomp vorgestellte Koalitionsvertrag kein revolutionäres Programm geworden ist.

Nur wenige einschneidende Veränderungen

Zwar waren sich alle Besucher, darunter viele Mandatsträger von Grünen und SPD, im klaren, dass „es schon ein historischer Moment“ war, als der erste grüne Ministerpräsident sein Programm vorstellte. Doch was Kretschmann und nach ihm Schmid unter dem Motto „Wir verstehen uns als echte Bürgerregierung“ umrissen, bietet nicht allzu viele einschneidende Veränderungen.

Am weitesten gehen die Koalitionäre bei der Bildung. Die Kitas und Ganztagsschulen wollen sie stark ausbauen, Gemeinschaftsschulen mit gemeinsamem Lernen bis zur zehnten Klasse auf Antrag der Schulträger als Ganztagschulen einführen.

Neben dem Abitur nach acht Jahren soll es wieder das nach neun geben, die Inklusion behinderter Kinder will man vorantreiben, die Studiengebühren zum Sommersemester 2012 abschaffen.

Den großen Finanzbedarf bei der Bildung sollen eine Erhöhung der Grunderwerbsteuer um 1,5 Prozentpunkte, die Umwandlung des Landeserziehungsgeldes sowie die Ausnutzung der „demografischen Rendite“ decken, also die Umwidmung von Lehrerstellen infolge sinkender Schülerzahlen.

Nicht mehr die Rede ist von einer zuvor geplanten Streichung frei werdender Lehrer-Stellen, ebenso wenig von der SPD-Forderung, die Kitas beitragsfrei zu machen. Hier haben sich die Grünen durchgesetzt.

Grüne Forderungen dominieren auch in den Wirtschafts- und Umweltkapiteln, wobei Szenarien eines staatswirtschaftlichen Marsches ins Öko-Zeitalter fehlen. Fast alle Pläne der Koalitionäre zum ökologischen Umbau erschöpfen sich in Umschreibungen von Fördermaßnahmen, von einer „dialogorientierten Wirtschaftspolitik“ sowie von Modellprojekten. So möchte man die Unternehmen zur Entwicklung ressourcenschonender und klimaneutraler Produkte ermuntern.

Allerdings wird das Vorhaben, bis 2020 zehn Prozent des im Land erzeugten Stroms aus Windrädern kommen zu lassen, Baden-Württemberg verändern. Denn dies bedeutet, dass jährlich mehr als hundert solcher Rotoren aufgestellt werden müssen.

Als Kompromiss zwischen den Grünen und der eher autofreundlichen SPD lassen sich die Passagen zur Verkehrspolitik lesen. Der Neubau von Straßen ist nicht ausgeschlossen, tritt jedoch deutlich hinter den Investitionen für den Erhalt bestehender Strecken zurück.

Grundsätzlich wendet sich die Koalition„gegen eine weitere Steigerung des motorisierten Individualverkehrs“. Allerdings vermeidet sie im Text jede Spitze gegen Porsche oder Daimler. Die Landesregierung schreibt sich stattdessen die Rolle eines Förderers jener „zukunftsfähigen Mobilität“ zu, der sich die Automobilindustrie zu widmen beginne.

Beim Thema Stuttgart 21 wird es ernste Konflikte geben

Beim verkehrspolitischen Hauptstreitpunkt, Stuttgart 21, hält der Vertrag die vor Ostern vereinbarten Kompromissformeln fest. Zusätzliche Landesgelder gebe es für den Bahnhof nicht. Die Regierung stehe zur Neubaustrecke nach Ulm und wolle über den Stuttgarter Tiefbahnhof eine Volksabstimmung nach den Vorgaben der Landesverfassung abhalten lassen. Der Stresstest des Bahnhofs wird von der Landesregierung zuvor „geprüft“.

Das derzeit hohe Plebiszit-Quorum von 33 Prozent der Wahlberechtigten will man per Verfassungsänderung senken. Dafür wäre jedoch die dazu völlig unwillige CDU-Fraktion als Mehrheitsbeschaffer nötig.

Wie allen Beteiligten klar ist, werden zwischen Grünen und SPD über das Thema Stuttgart 21 ernste Konflikte entstehen. Ihnen gehen die Koalitionäre ohne Zögern entgegen.

Die SPD führt in den kommenden Wochen eine Mitgliederbefragung über den Koalitionsvertrag durch, am 7. Mai halten beide Partner Parteitage ab. Am 12. Mai soll Winfried Kretschmann im Landtag zum Regierungschef gewählt werden.