Ungarns EU-Ratspräsidentschaft hat gezeigt, dass sich die jungen Mitgliedsstaaten immer mehr von Brüssel emanzipieren. Am Freitag übernimmt Polen das Ruder.
Mehr als zwei Stunden lang hatte sich Viktor Orbán im Plenarsaal des Straßburger Parlaments geduldig die wenigen wohlwollenden Kommentare und vielen Angriffe und Vorwürfe der EU-Abgeordneten angehört. Als Ungarns Premierminister an jenem Mittwochmorgen im vergangenen Januar zum zweiten Mal das Wort ergriff, war allen im Plenum klar, dass nun der Gegenangriff kommen würde.
Der 1,90-Meter-Mann stand auf, knöpfte seine Anzugjacke zu und blickte kampfeslustig in die Runde. Er wundere sich, was genau den großen Unmut hervorrufe – „vielleicht meine Zweidrittelmehrheit im Parlament?“ Und verbitte es sich hiermit ein für alle Mal, Ungarns Demokratie infrage zu stellen: „Dass man das ungarische Volk beleidigt, das lasse ich nicht zu.“ Kurz darauf verließ Ungarns Premier das Straßburger Rund.
Wenn am Donnerstag die sechsmonatige EU-Ratspräsidentschaft zu Ende geht, ist die binneneuropäische Bilanz des ungarischen EU-Vorsitzes nicht hinter den Erwartungen zurückgeblieben, die Orbán Mitte Januar vor den EU-Parlamentariern hervorrief. Weder als Regierungschef noch als amtierender EU-Ratspräsident hat sich der Ungar irgendwie von Vertretern der Europäischen Union beeindrucken lassen.
Mit Orban lernte Europa einen neuen Politikertypus kennen
Der seit einem Jahr amtierende Premier verpasste Ungarn eine neue Verfassung, die die Entwicklung seines Landes auf Jahre prägen wird . Sie schwächt die Gewaltenteilung, unterminiert das Verfassungsgericht, Orbáns Getreue können langfristig in Schlüsselpositionen bleiben. Er peitschte zudem trotz heftiger Kritik und mit nur wenigen Änderungen ein Mediengesetz durch, das wochenlang für Empörung gesorgt hatte.
Europa konnte einen neuen Politikertypus kennen, mit dem es erst einmal umzugehen lernen muss. Suchten die Staatenlenker aus den 2004 beziehungsweise 2007 beigetretenen EU-Mitgliedsstaaten bisher eher die dritte Reihe als das Rampenlicht, ist mit Orbán ein neues Selbstbewusstsein nach Brüssel gekommen: in erster Linie am nationalen Interesse orientiert, die EU als Anti-Beispiel betrachtend, mit einer Selbstsicherheit, die Arroganz nahekommt.
Orbáns Auftritte in Straßburg wie Brüssel machten im letzten Halbjahr deutlich, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die „neuen EU-Mitglieder“ die „Gelegenheit zum Schweigen nutzen“, wie ihnen einst Frankreichs Ex-Staatschef Jacques Chirac nahelegte.
Orbán führt diese Entwicklung an: Seht her, wir sind keine Bittsteller mehr, gehen unseren eigenen Weg. Überraschen kann das in seinem Fall niemanden: Schon 2001 hatte der Rechtskonservative den Ausspruch gebracht, „es gibt auch ein Leben außerhalb der EU“. Damals zahlte er dafür mit der Wahlniederlage. Heute aber beklatschen ihn seine Anhänger dafür.
Werden einst glühende EU-Anhänger zu Nationalisten?
Angesichts dieser Stimmung nutzte Orbán die zusätzliche europäische Bühne, um seine Politik zu Hause gut zu verkaufen. Und machte zu Hause Stimmung gegen Brüssel: Bei einem Treffen mit Chinas Regierungschef Wen Jiabao sagte Orbán jüngst, Ungarn brauche „eine andere Art von Bündnissen und eine andere Art von Verbündeten“. Die Chinesen investieren seit Jahren massiv in Ungarn und haben Budapest vor dem sicheren Staatsbankrott gerettet.
Und am Nationalfeiertag, dem 15. März, verbat sich Orbán „Diktate“ aus Brüssel. Moskau habe Ungarn nichts diktieren können und auch Brüssel erlaube man das nicht. Um gleich danach aus dem „Glaubenbekenntnis“ der neuen Verfassung zu zitieren: „Wir glauben daran, dass unsere Kinder und Enkel mit ihrem Talent, ihrer Ausdauer und ihrer seelischen Kraft Ungarn von Neuem groß machen werden.“
Es wird sich zeigen, ob dieses Selbstverständnis gut ist für das europäische Projekt, weil es von der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, zeugt. Oder aber, ob aus den einst glühenden EU-Anhängern in Mittel- und Osteuropa Staaten geworden sind, die in erster Linie in nationalen Kategorien denken und populistisch auf Brüssel schlagen, wenn es innenpolitisch opportun ist.
„Orbán ist selbstbewusst – und von sich selbst besessen“, klagt ein Diplomat aus einem der mitteleuropäischen EU-Staaten. „Was zählt, ist die eigene Geschichte – das Denken geht nur nach innen, es ist nicht europäisch.“
Aufatmen über Stabsübergabe an Polen am 1. Juli
Bei vielen in Brüssel wird es deshalb ein Aufatmen geben, wenn am 1. Juli Polen und sein im Stil zurückhaltender Regierungschef Donald Tusk das Ruder übernehmen. Der Pole wird das Ratsgebäude an der Rue de la Loi voraussichtlich nicht zur Selbstprofilierung nach dem Vorbild seines Amtskollegen nutzen.
Der ließ die Europäer nach dem letzten Rat unter seinem Vorsitz Ende vergangener Woche wissen, dass dank der Ungarn „Europa stärker als noch vor sechs Monaten, ja sogar stärker als je zuvor dasteht“. Sein Land sei in äußerst schlechter Verfassung gewesen, als es die Präsidentschaft übernahm. „Aber Fehler der Vergangenheit muss man korrigieren“, betonte Orbán, auf seine sozialistische Vorgängerregierung abzielend.
Was noch mehr zu denken gab als innenpolitische Tiraden auf europäischem Parkett, war aber das Schlusswort. Es schien, als habe der 48-Jährige die massiven Proteste gegen das umstrittene Mediengesetz – auf die er selbst mit Korrekturen reagierte – und die Kritik am Umbau der Verfassung völlig vergessen oder als unwürdig abgetan: „Wir haben unsere Glaubwürdigkeit und unseren Ruf wiedererlangt. Das ist wichtig für eine Nation“, schloss Orbán seine Brüsseler Pressekonferenz.
„Ungarns EU-Vorsitz war ein Erfolg in Bezug auf die Arbeitsziele, die man sich zu Beginn setzte. Aber politisch war er ein Desaster“, meint hingegen die ehemalige Außenministerin Kinga Göncz im Gespräch mit Morgenpost Online. „Die sechs Monate an der Spitze der EU wurden von antidemokratischen Entscheidungen der Regierung Orbán überschattet.“
Auf der Arbeitsebene können die Ungarn Erfolge vorweisen
Unstrittig bleibt, dass die Ungarn als Ratspräsidenten auf der Arbeitsebene Erfolge vorweisen können. Ganz vornan steht der Beitritt von Kroatien als 28. EU-Mitglied. Zu Jahresbeginn gab kaum jemand Außenminister János Martonyi eine Chance, als der den Abschluss der Verhandlungen bis Ende Juni zum Ziel erklärte.
Noch im März sah es so aus, als könnten die Kroaten vor allem im Justizbereich die Vorgaben nicht erfüllen. Doch vergangenen Freitag unterzeichnete der Europäische Rat eine politische Erklärung, dass der Balkanstaat im Juli 2013 Mitglied sein soll. Die geplante Erweiterung des Schengenraums, die Deutschland und Frankreich blockieren, bleibt aber ausgesetzt. Budapest unterstützte den Zutritt von Rumänien und Bulgarien trotz eines positiven Votums des Europaparlaments vergeblich.
Zudem brachten die Ungarn das „Europäische Semester“ durch den Rat, das der EU-Kommission künftig erlaubt, früher und umfassender auf die Finanzplanung der einzelnen Staaten einzuwirken. Ungarische Experten trugen auch in vielen hektischen und langen Sitzungen zu den immer neuen Maßnahmen zur Rettung des Euro bei.
Außerdem wurde die Reform des Stabilitätspakts beschlossen, die die gemeinsame Währung in der Zukunft besser vor Katastrophen wie der griechischen bewahren soll. Allerdings gibt es um eine wichtige Teilreform noch Streit zwischen Rat und EU-Parlament, sodass das Gesamtpaket wohl erst im Juli über die Bühne geht.
Aus Budapests Sicht besonders wichtig ist die beschlossene Roma-Strategie, durch welche die Situation der zwölf Millionen Roma in Europa verbessert werden soll. Ungarn hat eine große Roma-Minderheit, gegen die es immer wieder Angriffe von Rechtsextremen gibt . Dass die Situation der Betroffenen dank der neuen Strategie wirklich besser wird, bezweifeln Menschenrechtsgruppen.
Ebenfalls wurde eine Strategie für den Donau-Raum abgeschlossen. Sie soll vor allem die Verbesserung der Schiffbarkeit der Donau und die Förderung des Tourismus bringen. 14 Länder mit 115 Millionen Menschen grenzen an Europas längsten Strom, die Ungarn betonen berechtigt den „grenzüberschreitenden Charakter“ in einer über Jahrhunderte von Konflikten geprägten Region.
Zu Fragen außerhalb der europäischen Grenzen kam vom ungarischen Vorsitz so gut wie nichts. Mit konkreten Ideen, wie Europa die arabischen Revolutionen unterstützen und für eine bessere und nachhaltigere Kooperation nutzen könnte, waren die Ungarn überfordert. Allerdings ist in dieser Hinsicht auch sonst aus Brüssel sehr wenig zu hören.