Berlin. Die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland werden abgeschaltet. Der Abriss dauert Jahrzehnte. Ein Besuch im Kernkraftwerk Lubmin.
Millimeter für Millimeter arbeitet sich das meterlange Sägeblatt durch den radförmigen Stahlblock. Wasser kühlt die Schnittstelle. Es bildet sich eine womöglich kontaminierte Pampe, die von der Maschine unterhalb der Sägeanlage in ein gelbes Fass gespuckt wird. Noch misst das Werkstück etwa einen halben Kubikmeter. Das ist zu groß für die Einheit, in der im Kernkraftwerk Lubmin an der Ostsee bei Greifswald gedacht wird. Da geltende Maß gibt eine Standardbox vor. Sie ist 120 Zentimeter lang und 80 Zentimeter breit wie hoch.
In solchen Boxen verschwindet das einst größte Kernkraftwerk Europas nach und nach. Große Betonteile werden ebenso aufgestemmt und zertrümmert wie Schreibtische oder Sanitäranlagen, Kabelstränge oder Rohre, bis sie klein genug für die Behältnisse sind. Die Sägen haben noch viel zu tun, bis die einst insgesamt fünf aktiven Reaktorblöcke, die begonnenen Bauten und alles drumherum soweit zerlegt sind, dass die einzelnen Teile in die Transportbehälter passen.
Rückbau des Atomkraftwerks dauert noch Jahrzehnte
Ganz am Ende wird auch die Zerlegehalle selbst dieses Schicksal ereilen. Doch das wird noch dauern, sagt Kurt Radloff, Sprecher des Entsorgungswerks für Nuklearanlagen (EWN). "Wir werden mit dem Rückbau der Anlagen Ende der 30er Jahre fertig sein, aber dann haben wir immer noch die Großkomponenten". Der Rückbau der Zerlegehalle sei erst für die 2060er Jahre geplant.

Das Standardmaß der Boxen hat seinen Grund. Jedes Gramm des einstigen Kraftwerks muss eine Freimessanlage passieren, bevor es das Gelände verlassen kann. Die beiden Anlagen stehen in einem ehemaligen Hochregallager. Zwischen den Geräten, die das Ausmaß eines kleinen Wohnwagens haben, steht ein altes Transistorradio der DDR-Marke "Stralsund" und bringt etwas Leben der Halle. "Lass uns nochmal aufdrehen", dröhnt es aus dem Mund Udo Lindenbergs durch die Stille.
Atomkraftwerk: Abbau in Lubmin dauert schon Jahrzehnte
Auch mitgebrachtes technisches Equipment muss erst durch die Prozedur. Die Arbeiter schieben es in das Gerät und beginnen die Messung. Eine Weile lang blinkt es grün und gelb, zum Glück nicht rot. Dann ist klar, dass der Inhalt hinsichtlich seiner Strahlenbelastung sauber ist. So dauert es schon mal eine dreiviertel Stunde, bevor der Zutritt zum Gelände erlaubt ist. Beim Verlassen ist das Prozedere erneut vorgeschrieben. Kein noch so kleines kontaminiertes Stück darf das Gelände verlassen.

Das "VE Kombinat Kernkraftwerke Bruno Leuchner", wie der gigantische Komplex am Greifswalder Bodden zur Eröffnung 1974 noch hieß, sollte sechs Blöcke erhalten. Damals arbeiteten mehr als 10.000 Beschäftigte auf dem Gelände. Fünf Blöcke gingen ans Netz, der letzte nur für gerade einmal drei Wochen. Der sechste wurde komplett fertig-, aber nicht in Dienst gestellt. Fünf Jahre nach dem Ende der Stromproduktion wurde der Rückbau genehmigt. Seit fast 30 Jahren fräsen, sägen und stemmen knapp 900 Beschäftigte die Reste auf Boxgröße zusammen.
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22 Reaktoren dürfen in Deutschland abgerissen werden
Der Rückbau ist nicht nur in Lubmin eine jahrzehntelange Herausforderung. Derzeit liegen laut Öko-Institut für bundesweit 22 Reaktoren Abrissgenehmigungen vor: Grafenrheinfeld, Biblis Block A und Block B, Isar 1, Gundremmingen B, Philippsburg 1 und 2, Neckarwestheim 1, Unterweser, Brunsbüttel, Mülheim-Kärlich, Stade, Obrigheim, Lingen, Hamm-Uentrop und Würgassen sowie das Kernkraftwerk Rheinsberg. Für weitere Blöcke wurden bereits Anträge auf eine Genehmigung gestellt.
Das Vorgehen ist hier überall ähnlich. Zunächst sollen die Brennelemente in einem Lagerbecken abklingen. Ältere werden gleich in Castorbehältern für hochradioaktives Material verstaut und in ein Zwischenlager auf dem Gelände untergebracht. Bevor die eigentliche Stilllegung beginnt, werden alle Kernbrennstoffe entfernt. Danach beginnt die Detailarbeit. Meter für Meter werden die Materialien auf Kontaminationen untersucht und entsprechend eingeordnet. Grundsätzlich nimmt die Radioaktivität mit der Nähe zum Reaktor zu. Viele Teile sind nur oberflächlich kontaminiert. Doch manche sind durch den Neutronenbeschuss selbst zur Strahlenquelle geworden, etwa die Reaktordruckbehälter.

Atomkraft: Rückbau kostet mehrere Milliarden Euro
Wie teuer der Rückbau wird, ist noch offen. Allein für Lubmin wurden die Kosten auf sechs Milliarden Euro geschätzt. Inzwischen geht EWN von einem höheren einstelligen Milliardenbetrag aus. Der frühere Bundesumweltminister Jürgen Trittin hat die Gesamtkosten für den Rückbau einmal auf rund 60 Milliarden Euro geschätzt, die von den Stromkonzernen Vattenfall, E.on, RWE und EnBW sowie dem Bund aufgebracht werden müssen. Der Bund ist für die beiden DDR-Kraftwerke Rheinsberg und Lubmin zuständig.
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Die Arbeitsbereiche sind strikt abgeschirmt. Wer hinein will, erhält einen Dosimeter, der eine etwaige Strahlenbelastung misst und notfalls akustische Warnungen geben kann. Nun heißt es, sich nackt auszuziehen und in bereitgelegte Unterwäsche und eine orangefarbenen Overall zu schlüpfen. Erst dann öffnet sich die Hallentür. Auf dem Rückweg wartet eine Schleuse. "20, 19, 18, 17…", zählt eine Frauenstimme die Messzeit herunter, fordert bei Null zum Umdrehen auf und beginnt die Messung erneut. Erst wenn es keine Kontamination festgestellt wurde, öffnet sich die Schleuse, und man darf wieder in den Umkleideraum.
Atomausstieg: Suche nach Atommüllendlager verzögert sich
Der gefährliche Atomschrott ist längst im Zwischenlager untergebracht. 241 Meter lang und 186 Meter breit ist das Gebäude mit den acht Hallen, unter deren Dach in 20 Metern Höhe ein Kran die mit dem strahlenden Material gefüllten blauen Container stapelt. Fast ganz am Ende, in Halle sieben, reihen sich die Reaktordruckbehälter aneinander. Erst die aus dem Kraftwerk Rheinsberg, dann die aus Lubmin. Halle 8 ist vom Rest noch einmal abgeschottet. Dort lagern die hochradioaktiven Hinterlassenschaften der AKW-Ära. Sie werden wohl noch Jahrzehnte in Lubmin bleiben, weil sich die Suche nach einem Endlager für den hochgefährlichen Atommüll verzögert.

In Lubmin ist ein weiteres Zwischenlager für hochradioaktive Stoffe geplant. Nuklear-Expertin Angelika Spieth-Achtnich vom Öko-Institut in Darmstadt ist Gutachterin bei der Umweltverträglichkeitsprüfung des neuen Lagers. Das Institut betreibt das Monitoring für den Rückbau aller AKW. Mit den bisherigen Erfahrungen an den verschiedenen Standorten in ganz Deutschland ist sie zufrieden. "Wir haben bisher keine unlösbaren technischen Probleme vorgefunden", stellt sie fest.
Die Vorsicht bewährt sich bisher. "Ein Atomkraftwerk wird nicht mit der Abrissbirne rückgebaut", sagt sie, "da wird alles sauber sortiert." Wenn die Brennelemente entfernt und in in Castorbehältern gelagert worden seien, wäre das große Freisetzungspotenzial bereits fort. Die Expertin ist von dem Konzept der Dekontamination bis hin zum kleinsten Teil überzeugt. Am Ende, so ist sich Spieth-Achtnich sicher, können die Anlage, die Gebäude und auch der Grund und Boden wieder sauber sein. "Die grüne Wiese ist möglich, versichert sie.
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