Berlin. Ein Leiden, ein Besuch beim Arzt, eine Diagnose – und dann sehr lange nichts. Monate, die vergehen bis zum nächsten Termin. Was bei einem Knochenbruch oder einer Blinddarmentzündung undenkbar wäre, ist bei psychischen Erkrankungen in Deutschland Alltag. Rund 20 Wochen, also fünf Monate, warten Menschen mit psychischen Erkrankungen derzeit im Schnitt auf einen Therapieplatz. Das ist das Ergebnis einer am Mittwoch vorgestellten Untersuchung der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), für die rund 9400 Therapeuten und Therapeutinnen befragt wurden. Ein Jahr nach der Änderung der Psychotherapie-Richtlinie sieht die BPtK immer noch gravierende Lücken bei der Versorgung von psychisch Kranken.
Seit vergangenem April sind Psychotherapeuten verpflichtet, mindestens zwei Stunden pro Woche für Sprechstunden zur Verfügung zu stehen. Zudem müssen sie 200 Minuten in der Woche am Telefon erreichbar sein. So soll sichergestellt werden, dass Patienten in dringenden Fällen schneller Hilfe bekommen.
Diesen Anspruch erfüllt die Richtlinie auch, erklärte Dietrich Munz, Präsident der BPtK, am Mittwoch. Zwischen dem Anruf in einer Praxis und dem ersten Gespräch vergehen laut Studie der BPtK im Schnitt 5,7 Wochen. 2011, bei der vorherigen Erhebung, waren es noch 12,5 Wochen. 70 Prozent der Patienten können innerhalb von vier Wochen mit einem Arzt oder einer Ärztin sprechen.
Doch dieses Gespräch ist nur der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung – und auf den nächsten müssen viele Patienten noch immer lang warten. In vielen Fällen gibt es in der Praxis, in der das Erstgespräch stattfand, keine freien Therapieplätze. Mehr als die Hälfte der Patienten ist deshalb gezwungen, den Therapeuten zu wechseln. Das geht nach Angaben der befragten Mediziner kaum schneller als vor sieben Jahren: Mit durchschnittlich 19,9 Wochen ist die Wartedauer nur wenig geringer als 2011, als sie bei 23,4 Wochen lag.
Am besten sind die Chancen auf einen schnellen Start der Behandlung in Berlin – hier warten Patienten im Schnitt 13,4 Wochen. Ganze zweieinhalb Monate länger warten dagegen Betroffene in Brandenburg und dem Saarland.
Hintergrund ist laut BPtK-Präsident Munz eine verfehlte Bedarfsplanung: „Die Versorgung hat mit dem tatsächlichen Bedarf nichts zu tun“, erklärte er. Sowohl in Städten als auch auf dem Land leiden rund 30 Prozent der Erwachsenen im Laufe eines Jahres an mindestens einer psychischen Erkrankung. Doch in der Bedarfsplanung sind für Ballungsräume sehr viel mehr Therapeuten eingeplant als für ländliche Gebiete: Während in Großstädten 36,1 Ärzte pro 100.000 Einwohner vorgesehen sind, sollen in ländlichen Gebieten gerade 18,2 ausreichend sein. Als „unlogisch bis bizarr“ bezeichnete Munz zudem die Planung für das Ruhrgebiet, wo trotz großer Städte sehr wenige Sitze für Therapeuten vorgesehen seien. Dort ist die Wartezeit mit mehr als sieben Monaten noch länger als auf dem Land.
Viele, die eigentlich eine Therapie benötigen, geben angesichts dieser Lage die Suche schlicht auf. Andere bezahlen die Therapie zunächst selbst und beantragen dann eine Kostenübernahme der Krankenkasse. Doch auch das ist keine Ideallösung: Mit Umsetzung der Richtlinie ist nach Angaben von Munz die Zahl der Fälle, in denen die Krankenkasse eine Kostenübernahme ablehnt, drastisch gestiegen – jeder zweite Patient bekomme kein Geld mehr zurück.
Die Situation für Betroffene sei „nicht zu akzeptieren“, sagte Munz. Er warnte, dass mit dieser Verzögerung in der Behandlung enorme Risiken einhergehen. Mit der Wartezeit steige auch das Risiko, dass Erkrankungen sich verschlimmern oder chronisch würden. Die Kammer fordert deshalb 7000 zusätzliche Kassensitze und eine Angleichung der Bedarfsplanung für Stadt und Land.
Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erklärte, der Gemeinsame Bundesausschuss – das Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und -kassen – sei beauftragt, die Bedarfsplanung „im Sinne der betroffenen Patientinnen und Patienten“ anzupassen. Damit solle der tatsächliche Versorgungsbedarf besser abgebildet und eine flächendeckende bedarfsgerechte Versorgung erreicht werden. Der Minister drängte das Gremium zu rascher Umsetzung: „Ich erwarte, dass der G-BA hier jetzt zügig voran kommt.“