Berlin/Budapest.
Die Flüchtlinge hatten tagelang am internationalen Bahnhof in Budapest ausgeharrt, gestern verloren sie die Geduld: Zu Fuß brachen mehr als tausend Migranten aus der ungarischen Hauptstadt in Richtung österreichische Grenze auf – eine Strecke von immerhin 200 Kilometern, auf der sie die Polizei zunächst unbehelligt ließ.
Der Marsch der Verzweifelten ist nicht die einzige Eskalation in der ungarischen Flüchtlingskrise. Während Ministerpräsident Viktor Orban weiter Stimmung gegen die Migranten in seinem Land macht, setzen die nun alles daran, rasch in den Westen weiterzureisen – dabei mahnt jetzt auch die Bundesregierung, die Menschen sollten in Ungarn Asyl beantragen.
Gleich an mehreren Orten spitzte sich gestern die ungarische Flüchtlingskrise zu. Aus dem südungarischen Aufnahmelager Röszke nahe der serbischen Grenze brachen am Mittag mindestens 300 Flüchtlinge aus. Sie waren unzufrieden mit ihrer Behandlung in der eingezäunten Einrichtung. In der Stadt Bicske bei Budapest wehrten sich weiter etwa 500 Flüchtlinge gegen ihren geplanten Transport in ein Flüchtlingslager, sie verweigerten aus Protest auch Essen und Trinken. Die Gruppe hatte in Budapest einen Zug in Richtung Sopron an der österreichische Grenze bestiegen in der Hoffnung, weiter nach Wien fahren zu können – der Zug wurde dann aber nach 37 Kilometer Fahrt gestoppt.
Am Bahnhof von Bicske starb am Freitag ein Migrant. Das berichtete die ungarische Nachrichtenagentur MTI unter Berufung auf den Rettungsdienst. Der 50-Jährige sei zusammengebrochen auf den Schienen gefunden worden.
Abholaktion gestartet
Die Polizei hielt auch einen weiteren Zug Richtung Österreich auf und brachte die 120 Flüchtlinge in ein Lager. Auch die Lage am internationalen Bahnhof in Budapest bleibt angespannt: Dort warten derzeit etwa 3000 Menschen darauf, in Zügen nach Österreich oder Tschechien ausreisen zu können – nachdem Ungarn alle internationalen Verbindungen nach Westeuropa eingestellt hatte. Am Abend stellte der Stabschef des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban, Janos Lazar, Hilfe in Aussicht: Die Regierung werde Busse für den Transport von Flüchtlingen zur österreichischen Grenze zur Verfügung stellen, kündigte er an.
Eine neue Eskalation steht am Wochenende bevor: Eine Flüchtlingsinitiative hat per Facebook auch in Deutschland dazu aufgerufen, am Sonntag Flüchtlinge in privaten Pkw und Bussen aus Budapest nach Wien und möglichst auch nach Deutschland zu bringen – obwohl sich Fluchthelfer damit strafbar machen können.
Ungarns Premier Orban heizte die Stimmung an. Er sprach sich in einem Interview gegen die Einwanderung von Muslimen aus. Es bestehe die Gefahr, dass die Europäer „plötzlich eine Minderheit auf ihrem Kontinent würden“, warnte er. Deshalb müsse beim Schutz der Grenzen Härte demonstriert werden. Vom 15. September werde Ungarn die Grenze zu Serbien schärfer mit Soldaten und Polizisten kontrollieren. Dann soll illegaler Grenzübertritt als Straftat geahndet werden.
Orbans Warnung vor der Zuwanderung von Muslimen stieß in der EU auf heftige Kritik. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn etwa erklärte, „man muss sich manchmal schämen für Viktor Orban.“ In Berlin sagte Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter: „Herr Orban ist eine Schande als Regierungschef für jedes Land, aber er ist auch eine Schande für Europa, denn er tritt die europäischen Werte mit Füßen“. Dass er sich auf das Christentum berufe, sei „eine Beleidigung für jeden, der gläubig ist.“
Die Bundesregierung reagierte weniger scharf, aber dennoch deutlich: Sie ermahnte Ungarn, seinen rechtlichen und humanitären Pflichten nachzukommen. Kanzleramtschef Peter Altmaier (CDU) wurde in diesem Sinne telefonisch beim ungarischen Botschafter vorstellig. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte, Ungarn müsse die Flüchtlinge ordnungsgemäß registrieren, versorgen und die Asylverfahren im Land selbst durchführen.
Der Umstand, dass Deutschland syrische Flüchtlinge derzeit nicht nach Ungarn zurückschicke, ändere an dieser Verpflichtung nichts. Nach der geltenden EU-Vereinbarung (Dublin-Verordnung) müssen Flüchtlinge dort ihr Asylverfahren durchlaufen, wo sie zuerst europäischen Boden betreten.
Die Bundesregierung bietet Ungarn aber Hilfe an, wie das Auswärtige Amt erklärte: Gemessen an der eigenen Bevölkerung sei Ungarn am stärksten von den Flüchtlingsströmen betroffen. Auch die Migrationsbeauftragte der Regierung, Aydan Özoguz (SPD), brachte die Hilfe Deutschlands ins Gespräch.
Die vier östlichen EU-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn pochten auf einen restriktiven Kurs gegenüber Flüchtlingen. Jedes EU-Land sollte souverän über seine Maßnahmen zum Umgang mit dem Andrang von Flüchtlingen entscheiden, verkündeten die Regierungschefs der Visegrad-Gruppe bei einem Treffen in Prag. Die Gruppe lehnt eine Quote zur Aufnahme von Flüchtlingen ab.
Aus der Front der europäischen Flüchtlingsverweigerer brach allerdings der britische Premier David Cameron überraschend aus. Er kündigte an, „Tausende“ Syrer dürften nach Großbritannien einreisen. Auch in Ungarn bekommt Orban Gegenwind: Ex-Premier Ferenc Gyurcsany erklärte, er lade jeden Abend als Privatmann bis zu zehn Flüchtlinge ein, die bei ihm essen und übernachten könnten.