Berlin-Bonn

Thierse fordert kompletten Umzug der Regierung

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Martin Lutz

Foto: AP

Er hatte vor zehn Jahren die erste Sitzung des Parlaments im Berliner Reichstag eröffnet. Jetzt kritisiert Wolfgang Thierse (SPD) den Verbleib einiger Ministerien in Bonn. Die Situation sei "auf Dauer nicht praktikabel" und "nicht zukunftsfähig". Starke Gegenwehr kommt aus Nordrhein-Westfalen.

Eine Dekade nach dem Wegzug der Politik vom Rhein an die Spree flammt die Debatte über einen möglichen Komplettumzug der Bundesregierung wieder auf. Während der Bundestag vollständig in die Hauptstadt umgezogen ist, haben in Bonn auch zehn Jahre danach noch immer fünf der 14 Bundesministerien ihren ersten Dienstsitz.

Mehr als die Hälfte der Bediensteten, gut 9000 Ministerialbeamte und Angestellte, arbeiten am alten Regierungssitz in Bonn. Das kritisiert Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) nun als „auf Dauer nicht praktikabel“. Sein Hauptargument: Das Land ist vereinigt, die Regierung zwischen Berlin und Bonn aber geteilt. „Das ist nicht zukunftsfähig“, sagt er. Thierse hatte am 19. April 1999, damals war er Bundestagspräsident, die erste Sitzung des Parlaments im Berliner Reichstag eröffnet.

Doch Thierse steht mit seiner Forderung in der Hauptstadt ziemlich allein da. Scharfe Gegenwehr kommt – wie stets bei dem Umzugsthema – aus Nordrhein-Westfalen. Einflussreiche Politiker haben in dem größten Bundesland ihren Wahlkreis. Als wichtige Bonn-Lobbyisten gelten Unionsfraktionsgeschäftsführer Norbert Röttgen (CDU), Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach (CDU), SPD-Fraktionsvize Ulrich Kelber, FDP-Chef Guido Westerwelle und der Grünen-Parlamentsgeschäftsführer Volker Beck. „Lokalpatriotismus spielt schon eine wichtige Rolle. Herr Thierse ist Abgeordneter aus Berlin und will für seine Stadt etwas erreichen“, sagte Bosbach Morgenpost Online. Viele Unionsabgeordnete sehen in Thierse ohnehin keinen guten Berlin-Botschafter, weil der ostdeutsche Sozialdemokrat die DDR gegen allzu scharfe Kritik verteidigt.

Die Fraktionschefs der Regierungskoalition, Peter Struck (SPD) und Volker Kauder (CDU), wollen das Umzugsthema jedenfalls nicht anpacken. Es gebe parteiübergreifend „leider noch erhebliche Widerstände“, heißt es auch im Haushaltsausschuss des Bundestages. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich im vergangenen Sommer ebenfalls zurückhaltend zu einem Komplettumzug geäußert. „Es wird sicherlich immer wieder Diskussionen darüber geben“, hatte sie gesagt: „Ich würde es zurzeit nicht anpacken.“

Politischer Druck kommt bisher nur von den Ost-Ministerpräsidenten und von Niedersachsens Regierungschef Christian Wulff. Sie hatten bereits Ende 2006 verlangt, den Regierungsapparat komplett nach Berlin zu verlegen. Der damalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) hatte die Bonner Ministerien als Anachronismus bezeichnet. Seit der Wiedervereinigung hätten Millionen Ost- und Westdeutsche ihr Leben von Grund auf umgestellt: „Für die Bundesregierung muss das Gleiche gelten.“

Das Berlin-Bonn-Gesetz von 1994 könnte für einen Komplettumzug jederzeit geändert werden. Darin ist festgelegt, welche Bundesministerien in die Hauptstadt umziehen sollten, und es gab Bonn Zusagen über den Erhalt als Politikstandort. So darf die Stadt am Rhein auch den deutschlandweit einmaligen Titel „Bundesstadt“ führen. Das Gesetz „zur Vollendung der Einheit Deutschlands“ war eine Folge des Hauptstadtbeschlusses vom 20. Juni 1991, in dem Berlin zum Regierungssitz bestimmt wurde.

Dass das Berlin-Bonn-Gesetz nicht geändert wird, liegt auch an den Staatsdienern selbst. Eine Mehrzahl zeigt eine erstaunliche Beharrungskraft. Sie haben sich ihr Bürokratendasein mit Blick auf die schönen Rheinauen behaglich eingerichtet. Die Berliner Chefs sind weit weg, und auf den Fluren der Ministerien macht der Spruch die Runde: „Wer etwas werden will, zieht nach Berlin. Wer einen lauen Lenz haben will, bleibt in Bonn.“

Die Befürworter des Komplettumzugs führen stets das Kostenargument an. Der Bund der Steuerzahler, der eine Entscheidung „pro Berlin“ fordert, schätzt, dass der doppelte Regierungssitz jährlich 23 Millionen Euro kostet. Wie hoch die Kosten wirklich sind, kann derzeit niemand exakt beziffern. Dem Finanzministerium zufolge beläuft sich der Mehraufwand für die doppelten Dienstsitze, die Hin- und Her-Reiserei von Ministeriumsmitarbeitern auf 8,8 Millionen Euro.

Unionsfraktionsvizechef Bosbach argumentiert dagegen, dass dem Bund schlicht das Geld für einen „drei bis fünf Milliarden Euro teuren“ Komplettumzug“ fehlt. Allein die Zinsausgaben für die nötige Kreditaufnahme lägen höher als die teilungsbedingten Mehrkosten. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), ebenfalls ein Nordrhein-Westfale, warnt vor Vereinfachungen. Die ohnehin knappe Entscheidung für das Bonn-Berlin-Gesetz sei nur zustande gekommen, weil „eine Aufgabenteilung vereinbart wurde, die damals keineswegs vorübergehend gemeint war“. Alle Beteiligten hätten nun „Anspruch auf Verlässlichkeit bei Entscheidungen, die einmal getroffen worden sind“.