Demonstration

Stuttgart 21 – Schwäbisches Happening in Berlin

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Manuel Bewarder

Der Demonstrationsreigen gegen Stuttgart 21 ist um eine Variante reicher: Im Sonderzug ging es zum bunten Protest nach Berlin.

Hans Schlecht will es der Hauptstadt zeigen: Die Stuttgarter können demonstrieren. Nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch in Berlin. Deshalb stutzt der Mitorganisator des ersten großen Protestes gegen das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 schon, als er am Tag vor der Abreise überlegt, ob die Demonstranten mit ihrem Sonderzug nun auf einem der oberen Gleise des Berliner Hauptbahnhofs ankommen würden – oder eben im Untergeschoss. „Das wäre schon blöd“, sagt Schlecht.

Aus seiner Sicht wären es keine guten Bilder für die TV-Kameras, wenn die Demonstranten unter der Erde einfahren würden. Schließlich stemmen sie sich doch gegen das Projekt, das den bisherigen Stuttgarter Kopfbahnhof als Durchgangsbahnhof in den Untergrund verlegen will. Deshalb lautet ihr Slogan doch „Oben bleiben“.

Mit dem Sonderzug 216 erreicht der Protest schließlich am Morgen um kurz nach halb acht die Hauptstadt. Und zwar ganz oben, unter dem Glasdach, das Kanzleramt und den Reichstag in Sichtweite. Viele der 600 im Zug strecken bei der Einfahrt ihre Köpfe raus, trillern laut. Am Zug pappen Aufkleber gegen das Bahnvorhaben. Sie wollen zeigen: Stuttgart 21 ist überall, weil die Bürger nicht wollen, dass über ihre Köpfe hinweg regiert wird. Es geht den Protestlern um nicht viel mehr, als ernst genommen zu werden. An diesem Dienstag wollen sie nicht nur zusammen mit den Berlinern vor der Zentrale der Deutschen Bahn demonstrieren. Oder besser: „demonschtrieren“, wie es die Schwaben aussprechen.

Sie wollen auch Politiker treffen. Klaus Ernst und Gesine Lötzsch warten deshalb am Morgen mit etwa 50 Projektgegnern aus der Hauptstadt auf Bahnsteig 14. Der Zug stoppt, die Türen öffnen sich vor den Vorsitzenden der Linkspartei. Überall lärmen Tröten, eine Big Band kommt aus dem Zug. Ernst ruft in sein Megafon, kommt damit aber nur ein paar Meter: „Freunde, ich heiße euch recht herzlich willkommen: Oben bleiben, oben bleiben!“ Links und rechts von Ernst eilen bereits die ersten Stuttgarter zum Frühstück auf dem Vorplatz – und setzen auch hier ihren Akzent: Noch lange werden Körbe voller Croissants rumgereicht. Die Bretzel sind schnell weg.

Die Diskussion um Stuttgart 21 schwelt seit Jahren. In den vergangenen Wochen wuchs der Protest freilich erst zur Massenbewegung, nachdem die angepeilten Kosten für das Projekt mittlerweile 4,1 Milliarden Euro betragen sollen und es dann im Stuttgarter Schlosspark bei Protesten viele Verletzte gab. Seitdem – und nachdem sich Bundeskanzlerin Angela Merkel deutlich für das Projekt aussprach – hat sich Stuttgart 21 zu einem bundesweiten Reizthema entwickelt.

Wie sehr die Emotionen mittlerweile hochkochen, zeigt sich auch auf dem Berliner Bahnsteig. Hauptstädter heißen per Plakat die Reisenden willkommen: „Berlin grüßt Stuttgart.“ Mehr steht da nicht. Dennoch eilt ein Wartender vom anderen Gleis herüber, reißt das Plakat runter und schreit: „Pro Stuttgart 21, pro Stuttgart 21!“

Hildegund Ohl versteht das nicht. Die 69-Jährige aus der Nähe von Stuttgart möchte mit Argumenten überzeugen. Deshalb hat sie die Reise in dem vollen Zug auf sich genommen. Auch wenn sie Bedingungen „sardinös“ nennt: „Ich hab eine Pille eingeworfen, dann habe ich wunderbar geschlafen“, erzählt sie. Nun ist sie bereit, den Protest in die Hauptstadt zu tragen.

Und sie zieht los. Über die ganze Stadt verteilen sich die Protestler aus Stuttgart – und ihre etwa 50 Sympathisanten. Auf einer Probebühne der Schaubühne probt Regisseur Volker Lösch mit einem Bürgerchor den Auftritt am Abend. Von Schiffen schwenken sie auf der Spree ihre Fahnen und rufen am Kanzleramt: „Die Merkel, die muss weg.“ Eine Delegation mit Valentin Funk von den Stuttgarter Parkschützern drückt dem Presseattaché der Schweizer Botschaft einen Brief in die Hand: ein Lob der Bürgerbeteiligung im Nachbarland. Hunderte aber ziehen durch die Stadt vor das Brandenburger Tor. Dort erhalten sie weitere Unterstützung von Politikern. Grünen-Chef Cem Özdemir, der seine politische Heimat in der Nähe von Stuttgart hat, freut sich: „Schwäbisch hört man ja nicht jeden Tag in Berlin.“ Und er fordert, das Projekt zu stoppen.

Die Grünen, die Linken – sie stehen seit Langem aufseiten der Demonstranten. Ganz anders sieht es aus bei der CDU, die im Südwesten regiert, das Projekt mit eingeleitet hat und an ihm festhält. Neun Stuttgarter sitzen deshalb am Nachmittag im Bundestag mit CDU-Abgeordneten, unter ihnen der Generalsekretär der Partei in Baden-Württemberg, Thomas Strobl. Der Tisch, an dem sie sitzen, ist nicht rund, und auch die Diskussion wird zackig. Alexandra Kurrek von den Parkschützern fordert mehr Bürgerbeteiligung und hinterfragt das Projekt. Strobl lehnt sogar eine Bürgerbefragung ab. Beide Seiten werfen sich gegenseitig „Arroganz“ vor, weil der andere die Wahrheit gepachtet habe. Sie streiten über Details aus der Vergangenheit.

Die halbe Stunde zeigt unvereinbar Positionen: Die Politiker hier wollen Stuttgart 21 nicht mehr stoppen. Die Gegner wollen nicht eingestehen, dass sie womöglich ein paar Jahre zu spät dran sind. Diese halbe Stunde zeigt, warum die Diskussion seit Wochen feststeckt