Für die alleinerziehende Berliner Verkäuferin, die im Schichtdienst auch mal bis 22 Uhr arbeitet, reicht es hinten und vorne nicht. „Der Teilzeitjob sichert zwar einigermaßen ihre Existenz, ihr Kind kann sie damit aber nicht optimal versorgen“, sagt Peggi Liebisch, Bundesgeschäftsführerin des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV). „Die Altersarmut ist auch schon vorprogrammiert.“ Alleinerziehende und ihre Kinder sind in Deutschland nach Erwerbslosen besonders stark von Armut bedroht, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden am Freitag mitteilte. Forscher warnen unterdessen vor den Folgen für die Heranwachsenden und die Gesellschaft.
Mehr als die Hälfte der Erwerbslosen und jede zweite bis dritte Alleinerziehende sind dem Armutsrisiko ausgesetzt, weil das Geld, das sie zum Leben haben, weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung ausmacht. Nach dieser Definition gilt insgesamt fast jeder siebte Bundesbürger zwischen Kiel und Konstanz, Kaiserslautern und Köthen als armutsgefährdet.
Migranten besonders gefährdet
Der Osten Deutschlands ist noch immer ärmer als der Rest der Republik, und auch die Bundeshauptstadt Berlin macht da keine Ausnahme. Fast jeder fünfte Berliner ist von Armut bedroht, wenn man das bundesweite Durchschnittseinkommen zugrunde legt. Damit liegt die Hauptstadt im Vergleich der Bundesländer nach Angaben des Statistischen Bundesamts an fünftletzter Stelle.
Als armutsgefährdet gelten bundesweit Alleinstehende mit weniger als 801 Euro und Familien mit zwei Kindern mit weniger als 1683 Euro monatlichem Haushaltsnettoeinkommen. Im Vergleich zum Vorjahr fielen 2009 etwas mehr Berliner unter diese Grenze. In den Bezirken Mitte, Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg sind im Vergleich die meisten Menschen von Armut bedroht. Mehr als 20 Prozent der Bewohner dieser Stadtteile waren im Jahresdurchschnitt 2009 armutsgefährdet, teilte am Freitag auch das Landesamt für Statistik Berlin-Brandenburg mit. Als armutsgefährdet gilt im innerstädtischen Vergleich, wer von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Berliner lebt. Diese Schwelle liegt in der Hauptstadt bei 742 Euro für einen Alleinstehenden. Am geringsten ist die Armutsgefährdung in Steglitz-Zehlendorf, Treptow-Köpenick und Pankow.
Eine besonders armutsgefährdete Gruppe sind nach Angaben der Berliner Statistiker Migranten: Ihr Armutsrisiko ist fast dreimal so hoch wie das der Hauptstädter ohne Migrationshintergrund. Singles, Alleinerziehende und kinderreiche Familien seien ebenfalls häufig bedroht. Auch mehr als ein Viertel der jungen Berliner verdient weniger als 742 Euro netto im Monat. Gut stünden hingegen Hochqualifizierte da. Ihr Armutsrisiko liegt unter fünf Prozent. Die größte Gefahr ist indes immer noch Arbeitslosigkeit.
Unter den Kreisen und kreisfreien Städten Brandenburgs wies Potsdam-Mittelmark mit 6,5 Prozent im Jahr 2009 die geringste Armutsgefährdungsquote im Brandenburger Maßstab auf. Die höchste Armutsgefährdung im Land Brandenburg war mit 23,6 Prozent in der kreisfreien Stadt Frankfurt (Oder) und in den Landkreisen Uckermark und Prignitz (18,8 beziehungsweise 18,6) zu verzeichnen.
Wissenschaftler warnen vor den Konsequenzen für die Zukunft der Gesellschaft. „Vor allem die verfestigte Armut von Menschen steigt beachtlich“, sagt der Armutsforscher Ernst-Ulrich Huster. „Und die Reichen werden immer reicher.“ Der Bochumer Politikwissenschaftler warnt vor den erheblichen Auswirkungen von Armut auf Bildung und Gesundheit der Gesellschaft. „Wir investieren zu wenig in unsere relevanten Rohstoffe: die Kinder und Jugendlichen.“
Mehr Geld für Erziehung
Für die vorschulische Erziehung – gerade für Kinder aus armen Familien – müsse viel mehr und gezielter etwas getan werden, fordert Huster. Dabei seien gut geschulte Kunst-, Musik- und Motopädagogen (Bewegungspädagogen) wesentlich. „Es nützt niemandem, wenn jemand, der als Schülerin selbst unsportlich war, mit den Kindern Purzelbäume macht.“ Eine Chipkarte allein, wie von Bundessozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) vorgeschlagen, motiviere Kinder nicht, sich zu bewegen. „Aber von einem ganztägigen Angebot mit kostenloser Ernährung sind wir meilenweit entfernt.“
Armen Kindern droht nach Einschätzung von Christian Alt vom Deutschen Jugendinstitut in München das Risiko, aus der Gesellschaft gänzlich herauskatapultiert zu werden. „Sie haben zu wenig Bildung, zu wenig Integration, zu wenig Freunde und zu wenig Möglichkeiten, dies zu kompensieren“, sagt der Wissenschaftler. „Diese Kinder sind irgendwann nicht mehr fähig, in dieser Gesellschaft Fuß zu fassen.“ Studien zeigten, dass sie auch nach und nach den Kontakt zu ihren Eltern verlören. Denn bei vielen erwerbslosen Erwachsenen sei das Selbstbewusstsein angekratzt und sie zögen sich zurück – „insbesondere die Väter“. Alt warnt: „Wir reproduzieren eine Armutsgruppe, die sich nicht aus diesem Armutsschlamassel rausziehen kann.“
Der Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge sieht indes eine erodierende Mittelschicht, die sich vor dem sozialen Absturz fürchtet und irrational reagieren könne. Fast ein Drittel aller Beschäftigten verdienten nur noch zwei Drittel des Durchschnittseinkommens und mehr als 40 Prozent der alleinerziehenden Frauen bezögen Hartz IV, so der Politologe.
Kritik an der Bundesregierung
Vor allem Alleinerziehende seien – wie die Berliner Verkäuferin – auf Nischenjobs angewiesen, beschreibt Andreas Klocke vom Frankfurter Forschungszentrum Demografischer Wandel das Dilemma. Diese Jobs brächten dazu noch wenig Geld ein. Eine wesentliche Ursache sieht der Wissenschaftler in der Lohnentwicklung in Deutschland, die in den vergangenen Jahren im Durchschnitt deutlich schwächer ausgefallen sei als in den anderen europäischen Ländern. „Mit einem Einkommen kommt eine Familie heute nicht mehr gut klar. Sie braucht mindestens 1,5 Gehälter.“
Sozialverbände haben auf die neuen Zahlen zur Armutsgefährdung mit harscher Kritik an der Bundesregierung reagiert. Um eine weitere Verschärfung der sozialen Lage zu verhindern, müsse die Koalition die ersten Schritte des Sparpakets und der Gesundheitsreform stoppten, forderte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher in Berlin. Dazu zählten etwa die Abschaffung des Rentenversicherungsbeitrags für Arbeitslosengeld-II-Empfänger, die Streichung des Heizkostenzuschusses für Wohngeldempfänger sowie die steigenden Zusatzbeiträge der Krankenkassen, die besonders sozial Schwache träfen.