Morgenpost Online: Herr Minister Tiefensee, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie lesen, dass 41 Prozent der Ostdeutschen die DDR nicht für einen Unrechtsstaat halten?
Wolfgang Tiefensee: Das zeigt einmal mehr, dass eine Diskussion „Unrechtsstaat – ja oder nein?“ der Komplexität nicht gerecht wird und so nicht weiterführt. Ehemalige DDR-Bürger haben unter einem diktatorischen Regime gelebt, reklamieren aber zu Recht, dass ihre Lebensleistung anerkannt wird. Wir wehren uns gegen Schwarz-Weiß-Malerei. Das macht sich jetzt an der Debatte über den Unrechtsstaat fest. Dieser Begriff wird von jenen Ostdeutschen abgelehnt, die ihn als persönlichen Angriff auf ihre Lebensleistung deuten. Wir Ostdeutschen sollten die Diktatur beim Namen nennen und zugleich selbstbewusster sein, weil wir die Mauer zum Einsturz gebracht haben.
Morgenpost Online: Bedrückt Sie das Schönreden der Diktatur?
Tiefensee: Durchaus. Wir haben in einer sogenannten Diktatur des Proletariats gelebt, einem Staat, der demokratische Grundrechte versagte. Das bedeutet aber nicht, dass das Leben in der DDR nicht auch vielfältige schöne Seiten gehabt hat. Ich hatte eine wunderbare Kindheit, konnte mich bilden und reisen. Aber das ist nur die eine Sicht. Ich vergesse nicht, wie gefährlich es war, das offene Wort zu pflegen. Das führte zu einem Klima der Verlogenheit. Es gab keine Freiheit des Wortes, der Reise, der Wahl und des Wohnsitzes, Menschen sind an der Grenze gewaltsam zu Tode gekommen. Es war auch eine Diktatur des Alltags. Sie wirkte wie ein lähmendes Gift.
Morgenpost Online: Viele Westdeutsche verklären im Rückblick die alte Bundesrepublik und trauern über den Untergang der „coolen BRD“. Woher kommt die Nostalgie im Westen?
Tiefensee: Wenn das so ist, dann wohl deshalb, weil wir in schweren Zeiten leben. Da blickt man gern auf die vermeintlich gute alte Zeit zurück. Bei uns im Osten wurden nach 1989 nahezu alle Lebensbereiche auf den Kopf gestellt und fast alle Strukturen abgewickelt. Manches hätte man durchaus auf den Westen übertragen können. Aber das war nicht gewollt. Das Motto lautete: Wir müssen im Westen nichts ändern.
Morgenpost Online: Die Sicht der Linkspartei auf die DDR scheint gesellschaftsfähig geworden zu sein. Das Ergebnis erfolgreicher Geschichtspolitik?
Tiefensee: Die Linke arbeitet mit simplen Formeln. Sie setzt Kritik am SED-Regime mit Herabsetzung ostdeutscher Biografien gleich und redet staatliche Willkür und Justizterror als „Demokratiedefizite“ klein. Meine Botschaft ist nicht so eingängig: Die DDR-Bürger haben in einem Käfig gelebt. Selbst wenn man dort angenehm leben konnte, auch wenn er also gut ausgepolstert war, Erlebnisse hatte, es war doch ein Käfig.
Morgenpost Online: Atmet Lafontaines Linke noch den Geist der kommunistischen Kaderpartei?
Tiefensee: Der Geist der Verklärung der DDR ist in dieser Partei mit Händen zu greifen.
Morgenpost Online: Sahra Wagenknecht wird vermutlich in den Bundestag einziehen. Die alte PDS hatte eine solche Kandidatur der Führungsfigur der kommunistischen Plattform stets verhindert. Welches Signal geht davon aus?
Tiefensee: Durch die Kandidatur von Frau Wagenknecht wird die Linke endlich mit ihren Flügeln kenntlich. Das finde ich gut. Bislang hat sie verschämt versucht, sich von Mitgliedern mit radikalen Positionen zu distanzieren. In der Partei wirken Kräfte, die ziemlich dicht an rechtem Gedankengut dran sind. Schließlich gibt es stramme Marxisten wie Wagenknecht. Es ist legitim, dass sie ihre Überzeugungen äußern. Ich möchte aber niemals, dass sie an Einfluss gewinnen.
Morgenpost Online: Auch von Ihren Parteifreunden schaut mancher mit verklärtem Blick auf die DDR. Warum ist die SPD in dieser Frage so zerrissen?
Tiefensee: Die SPD hat einen gemeinsamen Nenner. Er lautet: 1989 ist ein System gescheitert, die Menschen jedoch nicht. Manchmal wird aber zu sehr nur eine Seite der Medaille hervorgehoben. Der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern hat jüngst die schöne Seite zu stark betont.
Morgenpost Online: Wie muss den Opfern zumute sein, wenn der Schweriner Regierungschef Erwin Sellering die Diktatur-Vergangenheit derart bagatellisiert?
Tiefensee: Wir werden den Opfern nur gerecht, wenn wir in aller Schärfe den Charakter der SED-Diktatur herausstellen. Da darf nichts ausgeblendet werden. Aber auch die Opfer werden verstehen müssen, dass ihr Schicksal das Wesen der DDR nicht vollständig abbildet. Die große Masse der Menschen hatte sich in diesem System eingerichtet, und so stoßen zwei Erfahrungswelten aufeinander. Wir müssen darauf achten, dass wir die Stimme der Opfer nicht überhören.
Morgenpost Online: Mehr als die DDR-Vergangenheit hat Sie zuletzt die Deutsche Bahn beschäftigt. Hartmut Mehdorn wollte den Konzern an die Börse bringen. Hat sich das jetzt erledigt?
Tiefensee: Die Teilprivatisierung lässt sich gegenwärtig schon wegen der Finanzmarktkrise nicht realisieren. Auch in der nächsten Legislatur sollte man davon Abstand nehmen.
Morgenpost Online: Stammte der Vorschlag, Daimler-Vorstand Rüdiger Grube zum neuen Bahn-Chef zu machen, von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) oder vom Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier (SPD)?
Tiefensee: Sechs Vertreter der Koalition haben sich über mehrere Kandidaten unterhalten. Darüber ist Stillschweigen vereinbart worden. Mich ärgert, dass solche Absprachen nicht eingehalten werden. Da die Diskussion darüber nun einmal begonnen hat, will ich betonen, der Vorschlag kam von beiden Seiten. Das ist keine diplomatische Antwort, sondern eine, die dem Gesprächsverlauf gerecht wird.