Anschlag Breitscheidplatz

Berlin hat ein Sicherheitsdefizit

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Jochim Stoltenberg
Flüchtlinge aus dem Irak legen am Breitscheidplatz den „Pray for Berlin“ mit Kerzen.

Flüchtlinge aus dem Irak legen am Breitscheidplatz den „Pray for Berlin“ mit Kerzen.

Foto: Britta Pedersen / dpa

Rot-Rot-Grün darf sich jetzt nicht länger gegen mehr Videoüberwachung sperren, meint Jochim Stoltenberg.

Einem Ritual gleich werden nach jedem terroristischen Anschlag neue Forderungen herausposaunt. Es mag ja sein, und einiges spricht dafür, dass im Lichte neuer Fahndungs- und Aufklärungserfolge auch in der Flüchtlingspolitik einiges verschärfend nachjustiert werden muss. Aber bitte nicht zur populistischen Unzeit. Sondern wenn die Lage geklärt und mögliche Defizite und Schwachstellen aufgespürt sind.

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Eine ganz andere Frage ist die, ob nach den Erfahrungen der letzten Monate vorsorglich genug für den Schutz der Bürger getan wurde. Dabei geht es nicht um nachträgliches Besserwissen, ob Berlins Weihnachtsmärkte etwa mit Betonbarrieren oder schwerbewaffneter Polizeipräsenz besser hätten geschützt werden können. Ein entschlossener Attentäter hätte sehr wohl eine andere Waffe wählen können als ausgerechnet einen schweren Lastwagen. Aber dass sich Berlins rot-rot-grüne Koalition unverändert vehement gegen eine Videoüberwachung an sicherheitsrelevanten Plätzen wie dem Alexander-, Potsdamer oder auch Breitscheidplatz wehrt, spricht Bände.

Das müsste eigentlich auch der neue Innensenator Andreas Geisel (SPD) endlich einsehen. Sein Appell an Handy- und Smartphonebesitzer, Bilder vom Tathergang der Polizei zur Verfügung zu stellen und damit Hilfe zur Aufklärung zu leisten, kommt einem sicherheitspolitischen Offenbarungseid gleich. Seit Jahren fordert die Berliner Polizei mehr Videoüberwachung an gefährdeten Orten, die CDU hat dafür eine Legislaturperiode vergeblich bei der SPD geworben.

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Mit uns keine Ausweitung der Videoüberwachung

Die Polizeigewerkschaft findet es denn auch zu Recht „ein wenig absurd, dass gerade die jetzige neue Regierung in Berlin die Videoüberwachung verteufelt“. Den Nachweis, wie hilfreich die bei der Fahndung ist, hat erst vor wenigen Tagen die Festnahme des U-Bahn-Treters vom U-Bahnhof Hermannstraße geliefert. All das ficht Michael Müllers Senat nicht an. Mit uns keine Ausweitung der Videoüberwachung in der Stadt, tönen SPD, Grüne und Linke unisono. Immerhin sollen Stärke und Ausrüstung der Polizei weiter verbessert werden. Aber dieses Versprechen ist im Augenblick nicht viel mehr als ein Placebo. Denn es dauert seine Zeit, bis beides zum Schutz der Bürger wirksam wird.

„Der Schutz der Berliner*innen und die öffentliche Sicherheit haben für die Koalition hohe Priorität.“ So steht es im dicken Koalitionsvertrag. Wie schwer sich die drei Linksparteien allerdings traditionell mit der von ihnen selbst proklamierten Priorität in der Praxis tun, ist den Berlinern schon bei der Wahl des neuen Innensenators vorgeführt worden. Alle drei Parteien haben sich vor der Übernahme dieses zentralen Ressorts gedrückt. Der SPD blieb nichts übrig, als ihren bisherigen Stadtentwicklungssenator zu benennen. Es bleibt für Senator Geisel zu hoffen, dass er dazulernt. Und dass ihm in heiklen Sicherheitslagen weniger parteiische Ideologie und mehr Rückendeckung zuteil wird als dem Vorgänger.

Datenschutz höher als der Schutz der Bürger

Zu hoffen bleibt über Berlin hinaus auch, dass man in der Justiz dazulernt. Ein Beispiel dafür lieferte just am Mittwoch der Europäische Gerichtshof, während die Fahndung nach dem Berliner Attentäter und dessen Hintermännern auf Hochtouren lief. Er kippte die systematische Speicherung von Telefon- und Internetdaten auch ohne konkreten Fahndungsanlass. Damit steht auch die zeitlich eng begrenzte deutsche Vorratsdatenspeicherung infrage.

Wieder einmal wird in der Kriminalitäts- und Terrorismusbekämpfung der Datenschutz höher bewertet als der Schutz der Bürger. Auch dies ein Urteil, das ganz auf der sicherheitspolitischen Linie des linken Berliner Senats liegt.