In Cannes wurde er gefeiert. Jetzt startet „Toni Erdmann“ endlich bei uns. Kino zum Niederknien. Trotz all der peinlichen Momente.

Vielleicht fehlt es dem deutschen Film oft gerade daran: an Biss. Maren Ade hat ihren neuen Film geradezu mit Überbiss ausgestattet. Das wichtigste Requisit in „Toni Erdmann“ ist ein falsches, ziemlich fieses Gebiss mit breit auseinanderklaffenden Zähnen, dass der wunderliche und glücklose Musiklehrer Winfried Conradi stets griffbereit in der Brusttasche hat und oft aufsetzt.

Dazu eine Perücke mit langen wirren Haaren: Diese Ad-Hoc-Maskerade reicht schon, um sein Umfeld zu konsternieren und herauszufordern. Der Witz kommt nicht gut an. Alle verdrehen peinlich berührt die Augen. Allen voran Tochter Ines, die in Bukarest arbeitet. Weit genug weg, um sich nicht immer für ihren Herrn Vater schämen zu müssen.

Leben ein Leben lang aneinander vorbei: der Vater und die Tochter
Leben ein Leben lang aneinander vorbei: der Vater und die Tochter © Komplizen Film | Komplizen Film

Bis der plötzlich bei ihr im Konzern steht. Um die Lücke, die zwischen ihnen ist, zu überwinden. Auch ein wenig, weil er seine Tochter mindestens so bemitleidet wie sie ihn. Ines hat keine Zeit, kein Privatleben, ist eine aalglatte Consulting-Beraterin und innerlich leer. Ausgerechnet ihr schrulliger Vater will ihr da helfen.

Bringt sie aber nur in peinliche Situationen. Auch vor ihren wichtigen und mächtigen Kunden, die in ihren Business-Anzügen schlucken, als der gebeutelte Freak mit der Plastiktüte da plötzlich vor ihnen steht. Die Tochter ist froh, als der Vater wieder abreist. Der steigt aber nicht in den Flieger.

Er macht sich bewusst unmöglich in der aalglatten Businesswelt: der Vater als Toni Erdmann
Er macht sich bewusst unmöglich in der aalglatten Businesswelt: der Vater als Toni Erdmann © Komplizen Film | Komplizen Film

Vielmehr setzt er sich nun auf Dauer das Gebiss und die Perücke auf. Kommt so völlig überraschend zurück und drängt sich zwischen Ines und ihre Freundinnen. Und gibt sich als ein Anderer aus, dem titelgebenden Toni Erdmann, Consulting-Berater wie seine Tochter. Die, hin und her gerissen zwischen berechtigtem Zorn und schlechtem Gewissen, spielt das Spiel erst mal notgedrungen mit. Doch durch diese Charade gewinnt sie erstmals Distanz zu ihrem Vater, kann sich plötzlich auf ihn einlassen. Und durch den Spiegel, den der Vater ihr vorhält, kann auch sie sich auf ebenso sonder- wie wunderbare Weise allmählich locker machen.

Der Film ist eine einzige Tour de Force. Man kann ihn nicht einfach so genießen. Die Grenzen zum Fremdschämen übertritt Maren Ade schmerzlich oft, da geht es einem wie der Tochter, es ist unheimlich peinlich. Und dann doch wieder rasend komisch. Eine Tour de force ist der Film auch für seine grandiosen Hauptdarsteller. Sandra Hüller und Peter Simonischek, beides gestandene Bühnenmimen, spielen so vertraut, als ob sich wirklich nicht nur ein Leben lang kennen würden, sondern auch ein Leben lang aneinander vorbei leben und unausgesprochene Vorwürfe mit sich herumschleppen.

Am Ende macht sich Ines wirklich von allem frei
Am Ende macht sich Ines wirklich von allem frei © picture alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Komplizen Film/NFP

Simonischek spielt diesen traurigen Clown ohne jede Hemmung vor Peinlichkeiten und macht sich am Ende buchstäblich zum Affen. Aber auch Sandra Hüller spielt mit Lust all die seelischen Blößen aus, die ihre Figur offenbart. Ein tragikomischer Höhepunkt, wenn sie vor einer Gesellschaft ausgerechnet Whitney Houstons „The Greatest Love of All“ singen soll. Und dann, wenn sie sich wirklich von allem frei macht – aber ausgerechnet auf einer Party, die sie für ihre Kollegen ausrichtet.

Zweieinhalb Stunden soll dieser Film gehen. Aber das muss ein Irrtum sein, die innere Uhr jedenfalls tickt anders bei diesem Film. Der einem nicht nur ganz viel darüber erzählt, was nicht so stimmt zwischen uns und unseren Familienangehörigen. Sondern auch, was gründlich schiefläuft da draußen in der globalisierten Wirtschaftswelt. Ein grandioser Wurf. Ein Highlight des deutschen Films. Kino zum Niederknien. Wen schert’s, dass es in Cannes dafür keine Palme gab.