Berlin. Es hatte einen Hauch von Slapstick, was Kaiser Wilhelm II. da am 16. März 1908 widerfuhr, insgeheim, versteht sich. Die Zeitungen berichteten am nächsten Tag voller Begeisterung nur: „Der Kaiser fährt U-Bahn“. Mit großem Gefolge war der Monarch zur Einweihung der neuen Strecke erschienen, der Magistrat von Berlin, von Charlottenburg und von Schöneberg, die preußische Regierung, alle Honoratioren waren auch da. Was aber, bewahre, in keiner Gazette stand und erst später durch Augenzeugen ans Licht kam: Wilhelm II. war im Gedränge mit seiner Helmspitze an die Decke des U-Bahn-Waggons gestoßen – und die Haube ihm dann über die Augen gerutscht. Bis vors Kinn. Ein paar Momente der so spektakulären Fahrt durch den Untergrund befand sich seine Majestät im Blindflug. „Nicht amüsiert“ soll Wilhelm gewesen sein, so hörte man.
Mit im Waggon war auch derjenige, der für das Design des Waggons verantwortlich zeichnete: Der Schwede Alfred Grenander, ein Architekt, der nicht nur die Fahrzeuge entworfen, sondern bis dato so gut wie alle damaligen U-Bahnhöfe ausgestattet und auch das äußere Erscheinungsbild der Hochbahnviadukte gestaltet hatte. Es ist nicht überliefert, was der Kaiser in dem Moment unterm Helm brummte. Wohl aber, was er beim nächsten Halt sagte, am U-Bahnhof „Kaiserhof“, ausgerechnet: „Sehr hübsch! Es soll auf den anderen Bahnhöfen aber noch schöner werden.“
Wilhelm II. im Blindflug durch Berlins Untergrund
Das etwas vergiftete Lob des Hohenzollern war nicht einfach so daher gesagt. Wilhelm war persönlich engagiert in der Innenarchitektur der Berliner U-Bahnhöfe und hatte sich hierbei mit der besonderen Vorliebe Grenanders ergänzt. Der Schwede war in seinen Entwürfen von Anfang an ein großer Freund der Kachel. Der Kaiser wiederum, ganz Geschäftsmann, hatte deshalb bei ihm erfolgreich für die Ware aus seiner „Königlichen Majolika- und Terrakotta-Werkstatt“ geworben. Die hatte er sich 1904 auf seinem privaten Rittergut in Cadinen am Frischen Haff bei Elbing in Ostpreußen errichten lassen, im Stil der nahe gelegenen Marienburg. Die Tongruben der Gegend lieferten dafür hervorragenden Rohstoff.
Die Geschäftsbeziehung zwischen Monarch und Architekt war also von Anfang an gedeihlich, so dass Grenander bald schon den „Roten Adlerorden“ verliehen bekam – wenn auch nur Vierter Klasse (es sollte ja „noch schöner“ werden). Bis zum letzten der insgesamt 50 von ihm geplanten U-Bahnhöfe, bis kurz vor seinem Tod 1931, griff Grenander auf die Kacheln aus Cadinen zurück. Mehrfach ließ er sich selbst dort blicken, um seine Sonderwünsche vorzubringen.
Die Bahnhöfe Alexanderplatz und Hermannplatz, geprägt von ihrem durchgehenden Farbglanz über alle Stockwerke, monochrom blau beziehungsweise gelb, sind die eindringlichsten Beispiele. Doch dem Stil folgen bis heute so gut wie alle Haltestellen aus der Ära des schwedischen Architekten, der wie kein anderer die Ästhetik des Berliner Untergrunds prägte, dessen Erbe auch in den später errichteten Bahnhöfen im Nord-Süd-Tunnel der S-Bahn erkennbar ist. Vollendet wird sein Spiel mit den Kacheln durch eine wohldurchdachte Licht-Inszenierung, die auch bei den kalten Farben stets Wärme ausstrahlte.
Die Farbgebung war nicht nur der Ästhetik geschuldet. Grenander wechselte innerhalb der Linien möglichst deutlich den Ton, so dass dem regelmäßigen Fahrgast auch bei morgendlicher Zeitungslektüre unterbewusst stets präsent war, wo er sich gerade befand. Manche Majolica in Berlins Unterwelt ist dabei von ehrwürdiger Provenienz. Wer etwa bei den stilisierten Palmendarstellungen im U-Bahnhof Klosterstraße ein Déjà-vu-Gefühl verspürt, der täuscht sich nicht. Die Darstellung kennt man aus dem Pergamon-Museum, vom dort nachgebauten Ischtar-Tor, dessen Kacheln ebenfalls aus der Königlichen Werkstatt in Cadinen stammten. Als dabei ein größerer Posten übrig geblieben war, freute sich Grenander und veredelte mit dem Überschuss den Bahnhofseingang durch einen Hauch historisierten Exotismus.
Die ersten drei Jahrzehnte des
20. Jahrhunderts, die Schaffenszeit des Schweden in Berlin, waren diejenigen mit dem zügigsten Ausbau des U-Bahnnetzes. Angefangen hatte er in den späten 1890er-Jahren, da noch über Tage. Hintergrund war ein sichtlicher Missstand, der zu regelmäßiger Klage in den Blättern der aufstrebenden Metropole führte. Die Hochbahngleise wurden da gerade auf ihre Stelzen gesetzt entlang der Skalitzer und Gitschiner Straße. Ein bisher dem deutschen Stadtbild fremdartiges Monstrum schlängelte sich durch die Magistrale. Alfred Kerr, damals der am meisten gefürchtete Kunstkritiker, schrieb in seinen „Berliner Briefen“ für die Königsberger Zeitung über die Eisenkonstruktion: „Barbarischer, ekliger, gottverlassener, blöder, bedauernswerter, mickriger, schändlicher, gerupfter, auf den Schwanz getretener sieht nichts in der Welt aus.“
Andere Kritiker drückten sich vornehmer aus, doch die Ablehnung war umfassend. Allein Ingenieure waren bislang tätig gewesen, aber niemand, der über die Wirkung des Ganzen in der Umgebung nachgedacht hätte. Kurz zuvor hatte Grenander sein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Charlottenburg – damals führend in Europa – erfolgreich abgeschlossen. Und just als die Kritik an dem Eisenviadukt unüberhörbar wurde, arbeitete er in dem Baubüro Paul Wallots, der wenige Jahre zuvor den Reichstag entworfen hatte. Tätig war dort auch der Architekt Paul Wittig, nebenbei Vorstandsmitglied der Berliner Hochbahn-Gesellschaft. Man kam zusammen, Wittig erhielt einen Etat für „Kunst am Bau“ und Grenander den Auftrag dafür. Er reüssierte glänzend.
Spaziergang durch die Stilepochen
Die Kritik an dem „barbarischen“ Monster verstummte, schlug um in Lobesarien über die bald sichtbaren Verschönerungen an der Hochbahn. Grenander wickelte florale und andere anheimelnde Elemente aus Eisen um die nackten Stützen und Streben, öffnete einen ganzen Fächer von Stilrichtungen zwischen Jugendstil und Historismus, auch in Form von Beton-Stelen, etwa an den Hochbahnhöfen Bülowstraße und Nollendorfplatz.
Über den dann bald vom Verschönerer zum Hausarchitekten der Hochbahn Aufgestiegenen wurde über die Jahrzehnte einiges geschrieben. Doch alle Kritiker und Biografen tun sich erkennbar schwer damit, ihn stilistisch einzuordnen, mal abgesehen von seiner Vorliebe für die farbigen Kacheln. Was natürlich mit seiner fast drei Jahrzehnte währenden Schaffensperiode zusammenhängt. Doch die Bandbreite zwischen seinem neoklassizistischen Bahnhof Wittenbergplatz von 1912 über den Jugendstil bis zu dem am Bauhaus angelehnten Bahnhof Krumme Lanke beeindruckt. Bisweilen bediente er sich auch an fernöstlicher Ästhetik, etwa bei den Zeitungskiosken oder Kassahäuschen neben den Bahnhöfen. Eines hat Grenander nicht in den U-Bahnbau mitgenommen: den wuchtigen Neobarock seines vorherigen Chefs, des Reichstags-Schöpfers Wallot. Der Bau auf dem Wittenbergplatz ist übrigens die einzige Kreation Grenanders, die in der Berliner Bevölkerung zunächst nicht gut ankam, weil er die Sichtachse des Tauentziens zur Gedächtniskirche verstellte.
Das „Eklige, Gottverlassene, Blöde“ aus der Stadt verbannt
Weitgehend einig ist man sich über den Schweden in einem: Er, der mit der U-Bahn-Architektur die alltägliche Gebrauchswelt der Millionen Berliner durch seine Ästhetik gestaltet hat wie kein zweiter jener Generation, hat dies nicht durch aufdringliche, vordergründige Effekte oder Größenprotz erreicht, sondern in wohlproportionierter Zurückhaltung. Grenander war Mitglied des „Werkbundes“, der sich die „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie und Handwerk“ zum Ziel gesetzt hatte, eine „Warenästhetik“ und „kunstgewerbliche Industrieproduktion“. Letztlich also das „Eklige, Gottverlassene, Blöde“, von dem Kerr geschrieben hatte, aus der Stadt zu verbannen.
Der Verzicht auf Imposanz dürfte der Grund dafür sein, dass der Name Grenander trotz seines in Berlin flächendeckenden Wirkens nicht sehr bekannt ist, immerhin ist der Vorplatz des U-Bahnhofs Krumme Lanke nach ihm benannt. Auch über sein Privatleben steht wenig geschrieben. Hat er überhaupt eines gehabt? Wer sein Werkverzeichnis durchblättert, mit vielen Dutzend Villen, Fabriken, Kirchen, Innenausstattungen, Möbel in breitgefächerten Stilen und neben den Bahnhöfen ja auch noch Waggons und Autobusse – dem können da schon Zweifel kommen.
Ergänzung: In einer früheren Version des Artikels war zu lesen, es seien keine Straßen und Plätze in Berlin nach Grenander benannt. Dies haben wir korrigiert. Wir danken den Hinweisgebern und bitten um Entschuldigung für den Fehler.