Eine Ausstellung im Kleisthaus zeigt den anderen Blick auf die Berliner Mauer.

Ein zufällig in die Schusslinie geratener Grenzer steht vor dem Potsdamer Platz. Man sieht ihn von hinten, im Anschnitt, einen Fotoapparat vor den Augen, in seiner Linken ein Zigarettenstummel. Vor ihm eine Wüste: märkischer Sand, kurzes Gras, rissiger Asphalt. Ganz weit im Hintergrund die Philharmonie. Davor: ein überwachtes Nichts. Schwer zu glauben, dass vor dem Mauerbau hier ein urbaner Platz vor sich hin ratterte. Ähnlich schwer zu glauben, dass heute, 50 Jahre nachdem dieses Foto aufgenommen worden ist, dort wieder Häuser stehen, Verkehr rollt, Kinos, Shoppingmalls, Touristen sind.

Nur selten ist die berüchtigte Analogie zwischen „auf Menschen schießen“ und „Fotos schießen“ so eindrücklich zu besichtigen wie derzeit im Haus am Kleistpark. Nicht im Gewühl von Feuergefechten, wie man es von der Kriegsfotografie kennt, von Robert Capa bis James Nachtwey. Es sind Schüsse aus dem Kalten Krieg: einem statischen Machtkampf, dem Verschanzen, Lähmen und Zerschneiden eines ganzen Landes.

Von 1963 bis 1969 war die Grenze noch improvisiert

Der Fotograf Arwed Messmer und die Autorin Annett Gröschner haben dem Monster, das die Berliner Mauer darstellte, ein fast ebenso monströses Projekt entgegengestellt. Monströs in seinen Ausmaßen: Zwei dicke Bände sind im Hatje Cantz Verlag erschienen, voller Bild und Text. In einem davon ist die gesamte Berliner Mauer abgebildet, innerhalb der Stadt und einmal um West-Berlin herum. Zustand: 1963 bis 1969 – noch improvisiert aus Steinen, Platten, Pfählen, Holz und Stacheldraht, vor der späteren Normierung durch Betonelemente. Ausführende Fotografen: die Grenzbeamten der DDR.

Monströs, im besten Sinne, sind auch der Detailreichtum und die Akribie der Arbeit von Gröschner und Messmer. 1995 entdeckten sie im Militärischen Zwischenarchiv in Potsdam einen Pappkarton. Darin befanden sich jede Menge zusammengerollte Kleinbildnegative: die innerstädtische Mauer, Meter für Meter abfotografiert. Es ging der Regierung ums Erfassen der Mauer vor dem völligen Dichtmachen. Und sie betrieb zugleich symbolische Grenzsicherung, im Archivieren des – so die berühmte perfide Umkehrung – „antifaschistischen Schutzwalls“.

Es handelt sich, wie Gröschner und Messmer betonen, bei ihrem Langzeitprojekt der „Inventarisierung der Macht“ nicht um ein historisches Projekt. Die aus verschiedenen Archiven zusammengetragenen 1059 Panoramen wurden von Messmer mit aktueller digitaler Technik jeweils aus Einzelbildern montiert. Das, sagt er, verweist auf die Künstlichkeit dieser Bilder. Es verweist auch auf die brutale Künstlichkeit der Mauer selbst, die innerhalb Berlins nicht selten mitten auf einer Straße errichtet wurde, Familien und Freunde trennte.

Zu den Fotos werden Texte aus Grenzprotokollen gestellt

Der Zugriff auf die Materialfülle, die Gröschner und Messmer entgegenschlug, ist ein dezidiert künstlerischer. Vor allem in der Interaktion der inszenierten Bilder mit sorgsam dazu gesuchten Textstellen aus Grenzprotokollen ergeben sich verstörende, auch absurd-lustige Verfremdungseffekte. An der Clara-Zetkin-Straße etwa, direkt am Reichstag, ruft ein West-Berliner Polizist um neun Uhr: „Ist es bei euch auch so kalt wie bei uns?“ Und an der Dresdner Straße, 16.05 Uhr: „Ein circa 18-jähriges Mädchen zieht sich im Auto vollständig aus und bietet sich den Grenzposten durch Gesten an. Nach circa zehn Minuten bekleidet es sich wieder.“ Da tut sich ein Riss auf im Archiv, dem Mechanismus aus Bewachung und Selbstbestätigung des Systems.

Annett Gröschner hat darüber hinaus zwei Räume der Ausstellung mit Auszügen aus Grenzbüchern gefüllt. Wie Überschriften aus Zeitungen kleben sie an den Wänden: News aus einer vergangenen Zeit, Stories von hinter den historischen Kulissen. Ein Raum versammelt Sätze aus Protokollen von Festnahmen im Grenzgebiet, das man als DDR-Bürger nicht ohne Erlaubnis betreten durfte. Der ganze Irrsinn der Mauer, der einem mit jedem Jahr, das sie nicht mehr steht, bewusster wird, zeigt sich hier in seiner Alltäglichkeit: „Er wurde im Grenzgebiet aufgegriffen. Er gab an, zum Haareschneiden zu wollen“, heißt es da. Aber auch: „Er sagte: ‚Nehmt mich fest oder schießt. Ich versuche so oder so, nach drüben zu kommen. Hier gehe ich vor die Hunde.‘“ Und, so tragisch wie poetisch: „Das letzte Stück bis zur Staatsgrenze ist er gerannt.“

Der Gesundheitszustand der Wachhunde wurde verzeichnet

Ein Raum stellt Auszüge aus Grenzer-Belobigungsbüchern einer Wand voller Tadel entgegen. Hier prallen Amtsdeutsch und das sehr Private der Regelverletzungen aufeinander: „Er zeigte ausgezeichnete Leistungen bei der Beseitigung von Störungen.“ „Er sieht im Gebrauch der Schusswaffe ein Muss.“ Dagegen: „Er spielte mit den anderen Grenzern Fußball während des Grenzdienstes.“ Die Mauer, betont Annett Gröschner, bestand eben nicht zuletzt aus denjenigen, die sie bewacht haben: Türme, Menschen, Hunde. Und so flankiert die Mauerpanoramen eine Sammlung von Grenzer-Porträts, Turmfotos und Karteikarten, auf denen Name, Rasse und Gesundheitszustand von Wachhunden verzeichnet sind.

Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6–7. Di.-So. 11–18 Uhr. Bis 21. August.