Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer hat seinen Erstling geschrieben. Für ihn ein ganz neues Medium. Wir haben ihn gefragt, ob das sein musste. Eine etwas andere Begegnung.

Der Pop-Konsument an sich ist ja wahnsinnig konservativ. Sobald er etwas gefunden hat, das er liebt, will er es auf Repeat. Und danach das Unmögliche: Etwas Neues, das genauso ist wie das Alte, aber dennoch anders. Das Scheitern nach dem großen Hit ist im Hit mit inbegriffen. Der Künstler kann es dem Konsumenten nie wieder recht machen. Nach der Hit-Verknalltheit bleibt nur die Enttäuschung Alltag, die sich an lauwarmen Erinnerungen labt.

20 Jahre „L’état et moi“ Blumfeld-Reunion-Tour, das war letztes Jahr und ein Eingeständnis. Alles, was nach dem zweiten Album kam, konnte nicht mehr richtigekicken. „Old Nobody“ nicht, „Verbotene Früchte“ nicht und Jochen Distelmeyers Soloplatte sowieso nicht. Und jetzt, nach sechsjähriger Schaffenspause, da folgt ein Substitut – ein Buch. Eigentlich ein cleverer Hakenschlag, ein neues Medium, es könnte ein „L’état et moi“ in einem anderen Aggregatzustand sein.

Zusammenhangslose Ankedoten

Der konservative Pop-Konsument setzt sich also mit „Otis“ auf seinen Stuhl und erwartet boom, boom Blumfeld-Gefühle, was er aber bekommt, ist Tristan Funke. Der ist neu in Berlin und schreibt gerade seinen ersten Roman. Außerdem fährt Funke U-Bahn (auch Bus), weiß nicht mehr wer „Horses“ gesungen hat (Patti Smith) und muss auf seine Cousine aufpassen.

Jochen Distelmeyer wäre aber nicht Jochen Distelmeyer, wenn er diese zusammenhangslosen Zugezogenenankedoten nicht mittels einer sexy Bildungsbürgeranalogie verknüpfen könnte: Odysseus. Tristan Funke auf Irrfahrt zwischen Spandau und Neukölln. Berlin – das ist neu und aufregend, und klingt so:

„Dann kam das Essen. ‚Sag mal, und Paps meinte, du würdest an ’nem Buch schreiben. Erzähl doch mal!’ Tristan stocherte in seinem Phad Tai. ‚Da gibt‘s nicht viel zur erzählen. Ich versuche die ‚Odyssee‘ von Homer mit der Geschichte eines flüchtigen Filesharing-Programmieres kurz zu schließen.’“

Der Programmierer heißt Otis. Und deswegen heißt auch das Buch Otis. Und – hier schließt sich der Kreis magisch – auch die Berliner U6 hat eine Haltestelle, die heißt Otisstraße.

Gute Gedanken zu Christian Wulff und den Piraten

Das ist natürlich alles sehr verblüffend. Zwischendrin lässt Distelmeyer, der das Buch 2012 schrieb, seine Figuren immer wieder das Zeitgeschehen des Jahres 2012 kommentieren. Da gibt es dann wirklich sehr gute Gedanken zu Christian Wulff und der Partei „Die Piraten“, die rund drei Jahre zu spät kommen. Der Autor Distlemeyer beweist Mut zur Inaktualität und auch zur Rede in Schriftsprache. Seitenlange Monologe im stolzen Proseminar-Aufsatzstil zeigen die wahre Tiefe der ansonsten zu keiner Zeit greifbaren Figuren. Gegen Ende des Romans verliebt sich Distelmeyer dann in die Möglichkeit der Plan-Sequenz. Hyperrealität in Buchform. Auch recht fluffig liest sich das Minutenprotokoll einer Kreuzberger Künstler-Party mit allerhand ungeschnittenem Smalltalk:

„Und in was für reizender Begleitung?“

„Ja, meine Cousine. Juliane? Ingo.“

„Hallo.“

„Ich habe schon gehört, dich hat es endlich auch nach Berlin verschlagen. Wo wohnst du denn?“

„Prenzlauer Berg.“

„Aah! Hatt’ ich auch meine erste Wohnung. Dann jahrelang Mitte.“

Es ist Seite 174. Spätestens jetzt blutet das Herz des konservativen Pop-Konsumenten. Er weiß, das Buch wird keine alten Gefühle in ihm wecken können. Es bleibt, was es ist – brutal langweilig. Aber, warum denn nur? Wir tragen die Frage zum Autor, treffen ihn in Neukölln, im Café Rix. Sein Manager isst Nudeln, er selbst, Jochen Distelmeyer, sitzt nur so da, fasst sich immer mal wieder abwechselnd ins Haar oder an die Nase, und irgendwie, und das ist schon merkwürdig, lässt ihn das elegant wirken.

80 Seiten beim Spazierengehen ausgedacht

Tristan Funke zweifelt in „Otis“ an „Otis“. Ist das eine Art Metaoffenbarung? Jochen Distelymeyer fasst sich an die Nase, sagt, er sei immer sehr überzeugt sei von dem, was er mache. Dann geht er sich durchs Haar. Anders als Tristan Funke falle ihm das Schreiben leicht, die ersten achtzig Seiten habe er sich beim Spazierengehen ausgedacht, Satz für Satz, er könne sie immer noch auswendig. Jochen Distelmeyer fasst sich an die Nase.

Und die Party-Plan-Sequenz am Ende des Buches? Screwball, sagt er. Was natürlich bedeutet, er glaubt, sie sei genauso rasant wie raffiniert geschrieben. Jochen Distelmeyer geht sich wieder durchs Haar, und wie er da so sitzt, so unnahbar stolz und so zum Haareraufen elegant, da begreifen wir endlich, welch unfassbar wertvolle Devotionalie der Pop-Fan mit „Otis“ erhalten hat.

„Könnte, könnte, könnte“

In schlechten Interviews mag sich der Autor hinter seinem Künstler-Ästhetizismus verstecken können, aber in einem Buch, da kann er gar nicht anders als als Mensch präsent zu sein. Unter allem Distelmeyer-Dekor, beyond Blumfeld, wohnt auch nur ein Tristan Funke. In „L'état et moi“ waren wir idealisiert verliebt. Mit „Otis“ haben wir die Manifestation der Beziehungskrise.

Und die, so denkt der Pop-Konservative, gehört zur wahren Liebe dazu, aushalten ist angesagt, denn es gibt ja immer noch Hoffnung. Jochen Distelmeyer sagt, eine Blumfeld-Reunion „könnte, könnte, könnte“ nochmal passieren, und wir könnten, könnten, könnten nochmal so verliebt sein – wie am ersten Tag

Buchpremiere am 3. Februar um 20:30 Uhr im Babylon (Rosa-Luxemburg-Platz)