Berlin. Der erste Berliner seit Furtwängler: Christian Thielemann tritt die Nachfolge Daniel Barenboims an der Staatsoper an. Ein Porträt.

Orakel lügen nie. In Berlin vermutete, ahnte, glaubte man lange, schon seit Jahren, dass Christian Thielemann eines Tages das Traditionshaus Unter den Linden leiten wird. Als Daniel Barenboim im Januar gesundheitliche Gründe zwangen, nach 30 Jahren vom Amt des Generalmusikdirektors zurückzutreten, war eigentlich allen Beteiligten und vielen Unbeteiligten klar: Nachfolger kann nur einer werden, Thielemann nämlich.

Logischer Nachfolger von Daniel Barenboim

Natürlich wurde auch wieder geunkt und gewarnt, wurden wieder die Konfliktfälle thematisiert, die Thielemann seit seinem Engagement in Nürnberg 1988 bis in die aktuelle Dresdner Zeit begleiten: die Rücktritte und Kündigungen sowie seine Schwierigkeiten mit übergeordneten Beamten, denen er zu unbequem war, nicht smart genug und außerdem auf ein vermeintlich deutschnationales Repertoire fokussiert.

Thielemann weiß um diese Vorbehalte, er weiß auch, dass sein eigenes Verhalten nicht immer vorbildlich gewesen ist. Aber man solle doch endlich den Mantel des Vergessens über diese Ereignisse breiten, meinte er am Mittwoch in der Staatsoper Unter den Linden, wo ihn Kultursenator Joe Chialo definitiv als neuen Generalmusikdirektor präsentierte. Der Fünf-Jahres-Vertrag ist bereits unterzeichnet. Daniel Barenboim zeigte sich in einer Grußbotschaft sehr befriedigt über die gefundene Lösung: Er kenne Thielemann seit dessen 19. Lebensjahr, halte ihn für einen der herausragenden Dirigenten unserer Zeit und sei überzeugt, dass er die „Ausnahmestellung der Berliner Staatsoper in Deutschland und darüber hinaus“ sicherstellen können. „Ich freue mich auf das, was kommt“ – so Barenboims Ausblick auf die nächsten Jahre.

Tatsächlich ist Thielemann dessen logischer Nachfolger. Die beiden Dirigenten verstehen sich ausgezeichnet, kennen weder Eitelkeit noch Künstlerhochmut, beide sehen sich in der Tradition Wilhelm Furtwänglers, was besonders ihre Interpretationen der Symphonien Beethovens erkennen lassen. Bei ihnen ist der Titan noch ein Titan, kein sportiv aufgelockerter oder gar im schrillen Dress vermeintlicher Originalinstrumente daherkommender Zeitgenosse.

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Der neue Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden am Mittwoch: Christian Thielemann.
Der neue Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden am Mittwoch: Christian Thielemann. © Sergej Glanze/FUNKE Foto Services

Ein Prophet grummelnder Deutschtümelei ist Thielemann deswegen noch lange nicht; man höre nur einmal seine Brahms-Symphonien mit der Staatskapelle Dresden, die erfrischend hell und spontan klingen, man erinnere sich an seine präzise ausgeleuchteten und dennoch betäubend wuchtigen Aufführungen Wagners, an den fulminanten Berliner „Ring des Nibelungen“, mit dem Thielemann vor einem Jahr ungewollt seinen Hut in den Ring geworfen hatte; er war kurzfristig für Barenboim eingesprungen und hatte in einem Maße triumphiert, dass seine Ernennung seitdem als alternativlos galt.

Der ein wenig zum Hedonismus neigende 64-jährige Berliner braucht keinen Chefposten mehr. Zwar lässt Dresden dessen Vertrag mit der Sächsischen Staatskapelle im kommenden Jahr auslaufen, aber unter mangelnder Auftragslage leidet er deswegen keineswegs. Geschlossene Verträge will er größtenteils erfüllen, richtig einsteigen in Berlin erst mit seiner zweiten und dritten Saison. Fast an allen Orten seines Wirkens leistete Thielemann wichtige Arbeit, seine Auftritte in Bayreuth und Salzburg sind legendär, seine Konzerte mit den Berliner und Wiener Philharmonikern stets ausverkauft. Er genießt jetzt, nach dem Rückzug Barenboims, den Ruf des weltweit größten Wagner-Dirigenten. Und könnte mit Lohengrin sagen: „Denn nicht komm ich aus Nacht und Leiden, aus Glanz und Wonne komm ich her!“

Christian Thielemann, Intendantin Elisabeth Sobotka und Kultursenator Joe Chialo (v.l.) am Mittwoch bei der Pressekonferenz.
Christian Thielemann, Intendantin Elisabeth Sobotka und Kultursenator Joe Chialo (v.l.) am Mittwoch bei der Pressekonferenz. © Sergej Glanze/FUNKE Foto Services

Vom Weihnachtsoratorium bis zum Happening

Dieser Glanz wird auf ganz Berlin ausstrahlen. Einen Mann wie ihn an die Lindenoper gebunden zu haben, stellt eine kulturpolitische Meisterleistung dar. Joe Chialo ist als Senator und Vorsitzender der Opernstiftung ein Neuling, die designierte Intendantin Elisabeth Sobotka wird ihr Amt erst in einem Jahr antreten; trotzdem ist ihnen eine geräuschlose Wahl und Ernennung gelungen. Dem Haus steht, wie mehrmals betont wurde, ein totaler Neuanfang bevor. Was das fürs Repertoire bedeutet, bleibt vorerst unklar. Thielemann munkelte etwas von Hans Werner Henze und kleinen Strauss-Opern, sieht sich genau an, was vor 100 Jahren an der benachbarten Kroll-Oper gegeben wurde. Ihm bieten sich aber weitere Felder, die mit den Namen Gluck, Weber und Lortzing verbunden sind, auch die deutsche Spätromantik birgt noch viele versunkene Schätze. In den Orchesterkonzerten mit der Staatskapelle will er das gesamte Spektrum abdecken, vom Weihnachtsoratorium bis zum Happening.

Die neue Personalie besitzt eine besondere, über die rein künstlerische Bedeutung hinausgehende Dimension. Denn Christian Thielemann ist sozusagen der erste Berliner auf diesem Stuhl. Die legendären Generäle und Kapellmeister des Hauses von Carl Heinrich Graun über Gaspare Spontini, Giacomo Meyerbeer und Richard Strauss bis Erich Kleiber, Herbert von Karajan, Franz Konwitschny, Otmar Suitner und schließlich Daniel Barenboim – sie waren allesamt Auswärtige. Es gibt nur eine Ausnahme: Wilhelm Furtwängler. Aber der residierte 1934/35 nur ein paar Monate Unter den Linden. Thielemann dürfte es länger aushalten, zumal er jetzt endlich wieder einen kurzen Arbeitsweg hat. Allerdings ist noch nicht entschieden, ob er sich vom Griebnitzsee eine Autoroute ohne Klimakleber sucht oder lieber die S-Bahn nimmt.

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