Uraufführung

Deutsche Oper: Bilder einer gestörten Familie

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Volker Blech
In Giorgio Battistellis Oper „Il Teorema di Pasolini“ zerstört ein Fremder eine großbürgerliche Familie.

In Giorgio Battistellis Oper „Il Teorema di Pasolini“ zerstört ein Fremder eine großbürgerliche Familie.

Foto: EIKE WALKENHORST / Eike Walkenhorst

Es war am Freitagabend eine bejubelte Uraufführung von Giorgio Battistellis „Il Teorema di Pasolini“ an der Deutschen Oper.

Berlin.  Der große Zuschauerraum der Deutschen Oper war überaus gut gefüllt. Das Orchester im Graben hatte eine seiner Sternstunden, die Sänger auf der Bühne waren darstellerisch stark und stimmlich gut besetzt. Die Inszenierung konnte obendrein Neugierde wecken. Nach anderthalb Stunden jubelte das Publikum. Was alles umso bemerkenswerter ist, weil es sich um eine Uraufführung handelte. Neue Musik wird von Zuhörern und oft auch von den Musikern selbst ungnädiger behandelt. Die Uraufführung von Giorgio Battistellis Oper „Il Teorema di Pasolini“ am Freitag war rundum ein Erfolg. Der italienische Komponist holte sich seinen Schlussbeifall selber ab. Es war unübersehbar, dass Battistelli zu den selbstbewussten Avantgardisten gehört.

Der Plot mag schnell erzählt sein. Ein Fremder besucht eine großbürgerliche Familie und beginnt mit allen Mitgliedern inklusive der Hausangestellten eine Affäre. Nachdem er wieder gegangen ist, wird die Leere und die Selbstzerstörung der Familie offenkundig. Der Film „Teorema“ (1968) zählt zu Pier Paolo Pasolinis bekanntesten Werken. Als Musiktheater wurde der Stoff 1990 im Rahmen der Münchener Biennale auf die Bühne gebracht, inzwischen hat Battistelli den Pasolini zur abendfüllenden Oper auskomponiert. Der Oper haftet zweifellos viel Retrogeist an. Wer sich jetzt für den Opernbesuch entscheidet, sollte sich vorher Pasolinis gesellschaftskritischeren Film anschauen.

Anfang der 1970er-Jahre war der junge Battistelli (Jahrgang 1953) dem gestandenen Pasolini (Jahrgang 1922) bei der Bibliothekseinweihung in einer kleinen Stadt begegnet. Er hatte den Film gesehen und das Buch gelesen. Er wollte vom Filmemacher wissen, wer der Gast sei: „Ein kommunistischer Revolutionär?“ Aber Pasolini verneinte: „Denke ihn dir als einen Engel, der vom Himmel kommt. Einen Engel der Vernichtung.“

Das Regieteam hat die ganze Handlung in ein Versuchslabor verlegt

Die Opernbühne hat es nicht so mit herein schwebenden Engeln, Protagonisten müssen handfester und streitbarer agieren. Das britisch-irische Regie-Duo Dead Centre hat deshalb die ganze Handlung in ein Versuchslabor verlegt. Der sexuelle oder intellektuelle Verführer ist Teil der Versuchsanordnung. Eine Live-Kamera dokumentiert das Geschehen auf der Bühne, es gibt Videoeinspielungen. Der technische Aufwand der Produktion ist beachtlich. Mag sein, dass auf Opernbühnen inzwischen Versuchslabore zu einer Modeerscheinung geworden sind, aber in diesem Fall trägt es sich über gut anderthalb Stunden auf wunderbare Weise. Die Bilder ziehen an einem vorbei. Der Abend ist kurzweilig und überraschend prüde im Vergleich zum Film.

Der Zuschauer sieht bereits vor Beginn Wissenschaftler in weißen Vollschutzanzügen auf der Bühne an Apparaten hantieren, und er bekommt auf einem Gazevorhang eingeblendet, unter welchen Parametern die Oper stattfindet. Die Angaben zeigen den Abend über den Testort, die Raumtemperatur, den Blutdruck der jeweils Beteiligten oder auch Auswertungsergebnisse an. In Bühnenmitte öffnet sich der jeweilige Versuchsraum. Im zweiten Teil der Oper werden alle sechs Räume neben- und übereinander gezeigt.

Aber zunächst trifft sich die Familie am Mittagstisch. Ein Telegramm kündigt den Gast für den nächsten Tag an. In wechselnden Szenarien trifft der junge Verführer die einzelnen Familienmitglieder. Das kann das Schlafzimmer, die Küche oder ein kleiner roter Fiat sein. Im ersten Teil gehören die Sänger zu den Forschern, in der Szene agieren dann Schauspieler-Doubles. Später wird aus den sechs Räumen heraus gesungen.

Battistelli weiß, was Sängerdarsteller brauchen und das Publikum verträgt

Battistelli ist ein erfahrener Opernkomponist. Er weiß, was Sängerdarsteller brauchen und das Publikum verträgt. Seine neue Musik klingt keinen Moment lang akademisch. Der Komponist kann souverän alle Register beim großen Opernorchester ziehen, um die dramatisch richtigen Stimmungen zu finden. Es gibt jazzige Impulse, viele Klangflächen oder ruppiges Aufbegehren. Battistellis in gewisser Weise auch Filmmusik ist illustrativ, liebt die Abwechslung und hat sogar etwas Verführerisches. So gesehen passt sie zum Stoff. Daniel Cohen kann der Musik am Pult viel Lebendigkeit einhauchen.

Den sechs Sängern hat Battistelli auch einen dramatischen Sprechgesang auferlegt. Die Distanzierung ist also in den Gesang eingeflossen, keiner der Darsteller singt in der Ich-Form. Alle wirken dauerhaft von sich entfremdet. Nikolay Borchev kann dem Fremden seinen sanft-verführerischen Bariton leihen. Andrei Danilov verfällt ihm mit tenoralem Aufbegehren, er wird später scheußliche Bilder malen. Wobei der junge Künstler vom Komponisten Battistelli musikalisch liebevoll umhüllt wird. Sopranistin Meechot Marrero trumpft als selbstbewusste Tochter auf, die unter einem Vaterkomplex leidet. Sie dreht durch. Mutter Lucia (Angeles Blancas Gulin) verfällt der Promiskuität mit jungen Männern.

Die in Einsamkeit verhuschte Angestellte (Monica Bacelli) steht für den Übergang der Oper ins Metaphysische. Emilia schwebt gen Himmel und lässt sich schließlich in der Erde verbuddeln. Davide Damiani verkörpert den stattlichen Familienvater Paolo. Der Bariton schreit am Ende den Weltschmerz heraus, wenn er nackt in der Wüste steht. Aber mit Urschreien stößt Oper an ihre Darstellungsgrenzen. Vielleicht sollte man am Ende besser den norwegischen Maler Edvard Munch mitdenken, dem „Der Schrei“ auf nachhaltigere Weise gelungen ist – als ein stummer Schrei.

Deutsche Oper, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Tel. 34388343 Termine: 16. und 21. Juni