100 Jahre RSB

Orchesterjubiläum mit viel Musik, Selbstfindung und DJ

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Volker Blech
RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski bei der Saisonvorschau im Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz.

RSB-Chefdirigent Vladimir Jurowski bei der Saisonvorschau im Funkhaus am Hans-Rosenthal-Platz.

Foto: Sergej Glanze / FUNKE Foto Services

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin und Chefdirigent Vladimir Jurowski kündigen ein buntes Programm zum 100-jährigen Bestehen an.

Berlin.  Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin präsentierte sein Programm für die große Jubiläumsspielzeit, und Chefdirigent Vladimir Jurowski sprach mit Blick auf die selbstgestellten Ansprüche am Donnerstag von einer „Qual der Wahl“. Denn was erwarte man von 100 Jahren Rundfunkorchester? Blockbuster oder neue Werke? „Wir haben ein ziemlich buntes Programm mit interessanten Namen zusammengestellt“, sagte der Stardirigent, „auf das ich auch ein bisschen stolz bin.“ Dann sprach er zunächst von wichtigen Dirigenten wie Peter Eötvös oder Marc Minkowski, raffiniert gestalteten Höhepunkten und unbekannten, aber exklusiven Werken. Auf das am 29. Oktober stattfindende Festkonzert „100 Jahre RSB“ wies Jurowski besonders hin. Der Dirigent hat dabei vor allem Musikgeschichte im Kopf.

„Achtung, Achtung! Hier Sendestelle Berlin Vox-Haus Welle 400. Wir bringen die kurze Mitteilung, dass die Berliner Sendestelle Vox-Haus mit dem Unterhaltungs-Rundfunk beginnt.“ Mit diesen Worten startete am 29. Oktober 1923 die erste Funk-Stunde in Berlin und damit die erste offizielle Unterhaltungssendung. Das Datum gilt als Geburtsstunde des Rundfunks.

Heute existieren in Deutschland die meisten Rundfunkorchester weltweit. Die beiden ältesten sind das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB), dessen Gründung mit der ersten Funkstunde einhergeht, und das MDR-Sinfonieorchester, das als „Leipziger Sinfonie-Orchester“ bereits im Januar 1923 ins Leben gerufen wurde, aber erst nach der Berliner Funkstunde auf Sendung ging. Man ahnt, dass der Gründungsmythos immer auch zu Rivalitäten zwischen beiden Musikstädten führte. Das internationale Erfolgsmodell brachte schon 1926 das NHK-Sinfonieorchester in Tokio hervor.

Das Vox-Haus war nach dem Mauerbau wegen Grenznähe abgerissen worden

Das Vox-Haus existiere nicht mehr, erklärte Dramaturg Steffen Georgi am Donnerstag. Leider, denn natürlich will das Orchester zum Jubiläum an verschiedenen Standorten seiner Geschichte spielen. Das Vox-Haus an der Potsdamer Straße war im Krieg beschädigt und nach dem Mauerbau wegen der Grenznähe weggesprengt worden. Georgi hat sich tief in die Orchestergeschichte eingegraben hat und konnte mit Hilfe von Musikwissenschaftlern der Humboldt-Universität und der Musikhochschule Rostock tief in Archive eintauchen. Im Oktober wird dazu das Buch „Musizieren für das Radio – 100 Jahre Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin“ veröffentlicht.

Man sei „unheimlich aufgeregt“, sagte Orchestervorstand Florian Grube am Donnerstag. Durch die Vorbereitungen auf die Jubiläumsspielzeit würden sich die Musiker wieder „mit ihrer Vergangenheit beschäftigen. Das weckt bei den Kollegen Erinnerungen.“ Das betrifft auch alte Wirkungsstätten zwischen Ost und West. 40 Jahre lang residierte das Orchester im DDR-Funkhaus an der Nalepastraße in Oberschöneweide. Im Juni 2024 wird es ein Wochenende lang dorthin zurückkehren. Jurowski selbst leitet das mehrtägige Festival mit Orchesterkonzerten im „Saal 1“, Kammermusik und Familienaktionen drinnen und draußen. Ein DJ ist dabei. Dessen Namen musste der Chefdirigent dann doch erklären. Gabriel Prokofiev ist der 1975 in London geborene Enkel von Sergej Prokofjew. Aber der britische Komponist, der kein Russisch mehr spricht, schwankt zwischen Party und Klassik. Bei Jurowski wird er auflegen.

Jubiläen sind immer etwas für Zeitzeugenschaft. Langjährige Orchestermitglieder erinnern sich in der Jahresbroschüre. Es geht auch um Emotionen beim Probenort-Wechsel, den das Orchester nach der Wiedervereinigung vom DDR-Funkhaus an der Nalepastraße ins Haus des Rundfunks in der Masurenallee vollzog. Michail Jurowski, Vater des Chefdirigenten, hatte das RSB noch in der Nalepastraße dirigiert. Vladimir Jurowski, der das Rundfunkorchester seit 2017 leitet, probt jetzt in der Masurenallee. Nach seinem Lieblingssaal befragt, nennt er den Kammermusiksaal der Philharmonie – wegen der tollen Akustik.

Es ist bemerkenswert, dass sich die so unterschiedlich genutzten Säle überhaupt vergleichen lassen. Tatsächlich gewannen die modernen Aufnahme- und Sendesäle schnell an Bedeutung im Musikbetrieb der Städte. Sie wurden Repräsentationsorte für neue Musik und zugleich Orte technischer Revolutionen, was wiederum Rückwirkungen auf Kompositionen haben konnte. Kommunikationschef Peter Meisel betonte bei der Programmvorschau, dass man auch die technischen Entwicklungen darstellen wolle. Er möchte die Innovationen ins Digitale weiter geführt sehen.

Genau genommen begann die Radiomusikgeschichte sogar etwas früher, denn das erste „Weihnachtskonzert“ war bereits 1920 vom Funkerberg in Königs Wusterhausen unweit von Berlin übertragen worden. Techniker der Funkstation spielten Geige, Cello und Klarinette, Postbeamte sangen Weihnachtslieder. Es folgten später „Sonntagskonzerte“ in einer zum Sendestudio umgebauten Dusche. Dass das heutige RSB so schnell mit Gründung auf Sendung gehen konnte, hing mit den bereits gesammelten technischen Erfahrungen zusammen.

Den Gebührenzahler von 1924 dürstete es nach mehr Musik im Radio

Auch die unbeliebte Rundfunkgebühr feiert ihr 100-jähriges Bestehen. Bereits 1924 erfolgte dann die erste Hörerbefragung der Programmzeitschrift „Der deutsche Rundfunk“. Die Hörer dürsteten nach mehr Musik. Noch war das Musikprogramm auf wenige Stunden am Tag begrenzt. Die Gebührenzahler interessierten sich hauptsächlich für musikalische Sendebeiträge wie die Übertragung von Operetten, Kammermusik, Tanzmusik, Opern und Chormusik. Insofern liegt Jurowski goldrichtig mit seiner Ankündigung eines bunten Jubiläumsprogramms.

Jubiläen verführen oftmals dazu, lieber über Vergangenes zu reden als über die ungewisse Zukunft. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und seine Orchester sind gegenwärtig in der Diskussion. Die wurde an diesem Donnerstag aber nicht geführt, es ging vorrangig um die 19 Abonnementprogramme, fünfzehn Sonderkonzerte und das Festival im Funkhaus. Jurowski verwies beiläufig aber immer wieder auf die gesellschaftliche Relevanz seines Orchester. So lobte er das über die reine Orchesterarbeit hinausgehende Engagement der Musiker. Und auch im künstlerischen Programm findet sich immer wieder das politisch Übergreifende. Beim Ultraschall-Festival bringt Jurowski am 18. Januar „Auf dem Meer“, Olga Rayevas Stück für Knopfakkordeon und großes Orchester, zur Uraufführung. Darin werden sich, erklärte der Dirigent, ihre Erinnerungen an die jetzt im Krieg zerstörte Hafenstadt Mariupol wieder finden.