Jan Philipp Reemtsmas monumentale Biografie über den aufklärerischen Schriftsteller & Shakespeare-Übersetzer Christoph Martin Wieland.
Es gehe ihm nicht darum, einen Götzen zu erschaffen, schreibt Jan Philipp Reemtsma sinngemäß am Ende seiner monumentalen Biografie über Christoph Martin Wieland, dem neben Lessing berühmtesten und einflussreichsten Dichter der Epoche der (deutschen) Aufklärung. Das wäre auch nicht im Sinne dieses ungeheuer vielseitigen Schriftstellers und Übersetzers gewesen, gleichwohl hebt sein Biograf ihn zu Recht auf einen Sockel und baut demselben mit dem vorliegenden Buch, bei dem es sich um das Resultat einer lebenslangen Auseinandersetzung mit seinem Sujet handelt, ein massives, handfestes Fundament. Wofür der Literaturwissenschaftler und Mäzen, dies gleich vorweg, gar nicht genug zu loben ist.
Wieland selbst ist einer der bekanntesten Unbekannten der deutschen Literatur, ohne ihn aber wäre diese nicht nur ärmer – was vielleicht zu verkraften wäre –, sondern so, wie wir sie kennen, gar nicht denkbar. Er war es, der Shakespeare erst so richtig in den deutschsprachigen Raum einführte – und ohne Shakespeare bekanntlich kein Goethe, kein Schiller, kein Kleist und kein Büchner –, der dem Romangenre einen neuen Anstrich verpasste und der der Weimarer Klassik, zu der er selbst zählte, den Boden bereitete. Doch eines nach dem anderen.

Wieland wurde 1733 als Sohn eines Pfarrers im schwäbischen Hinterland geboren, nahe Biberach und weit ab vom Weltgeschehen. In dieser Zeit – das Barock lag in seinen letzten Zügen – betraten Dichter wie der von ihm bewunderte Barthold Heinrich Brockes, Friedrich von Hagedorn und Albrecht von Haller die literarische Bühne, Johann Sebastian Bach komponierte in Leipzig seine h-Moll-Messe, Voltaire, der bereits eine Berühmtheit war, veröffentlichte seine „Philosophischen Briefe“ und Johann Christoph Gottscheds steife, lehrbuchartige Poetik „Versuch einer critischen Dichtkunst vor die Deutschen“, ein veritabler Tiefpunkt der Geistesgeschichte, gegen die Wieland später zusammen mit Lessing, dem Bruder im Geiste, heftig opponieren und polemisieren sollte, war gerade erschienen.
Die gebildete Herzogin Anna Amalia berief Wieland nach Weimar
Nach einer kurzen Phase als Hauslehrer in der Schweiz, wohin ihn der Ästhetiker Bodmer eingeladen hatte, kehrte der progressive Freidenker nach Biberach zurück. In dieser Zeit wurzelt die zunächst als Liebesbeziehung begonnene, lebenslang andauernde Freundschaft zur drei Jahre älteren Kusine Sophie von La Roche, der Verfasserin des Briefromans „Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim“, den er herausgab. Nach einem Zwischenspiel als Philosophieprofessor in Erfurt wurde er dann 1772 von der Herzogin Anna Amalia nach Weimar gerufen, wo er den künftigen Regenten Carl August unterrichten und auf sein Amt vorbereiten sollte. Dies war die Geburtsstunde der Weimarer Klassik – und nicht erst der allerdings schillernde Auftritt Goethes im noch weitestgehend unbedeutenden thüringischen Provinznest drei Jahre später.

Über den Nutzen und Nachteil eines Kanons lässt sich streiten. Goethe und Schiller haben ihren Platz im literarischen Olymp zweifellos verdient, wobei selbst sie sich die Frage gefallen lassen müssen, inwieweit sie tatsächlich heute noch gelesen werden und von wem. Reichlich unfair erscheint es allemal, dass Wieland so sehr in ihrem Schatten steht – und übrigens Herder, der Vierte im „Weimarer Bunde“, oder auch Johann Karl Wezel, Autor des satirischen Romans „Belphegor“, der so einiges mit Wieland gemeinsam hatte, genauso.
Wieland erschuf Worte wie Steckenpferd, Milchmädchen oder kaltherzig
Nicht nur die Literatur, die deutsche Sprache insgesamt wäre ohne den gelehrten Poeten, der seinen Lebensabend auf dem nahe Weimar gelegenen Gut Oßmannstedt verbrachte, an dessen Restaurierung und Umbau zu einem Museum samt Forschungsstätte Reemtsma maßgeblich beteiligt war, um einiges ärmer. Um Shakespeare ins Deutsche zu übertragen, ersann er zahllose Neologismen, die uns heute längst nicht mehr als solche erscheinen: „Steckenpferd“, „heimatlos“, „kaltherzig“, „harmonisch“, „Milchmädchen“, „gewohnheitsmäßig“, „Spleen“ und ja, auch „Weltliteratur“, sind nur einige Worte und Wendungen, die wir ihm zu verdanken haben.

Wielands im antiken Griechenland verorteter großer Bildungsroman „Die Geschichte des Agathon“ (1766/67), ein Vorläufer von Goethes „Wilhelm Meister“, ist so etwas wie der Prototyp des modernen psychologischen Romans in Deutschland. Die ironische, in eine märchenhafte Feenwelt verlegte Don-Quijote-Adaption „Don Sylvio von Rosalva“ (1764) ist ein früher Fantasy-Roman, die Satire „Die Abderiten“ (1774–80 in Fortsetzungen erschienen) ein einziger literarischer „Schildbürgerstreich“ und „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ (1800–1802), eine ausufernde Hommage in Romanform an die Liebe, die Künste und die Philosophie, die Sokrates, Platon und das alte Athen zum Leben erweckt.
Heute sind es sicher die Romane, die am besten geeignet sind, sich dem Werk des Herausgebers der seinerzeit sehr einflussreichen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“ wieder zu nähern, das auch Erzählungen, Märchen, Gedichte, Versepen („Musarion“!), Singspiele und ästhetische und politische Essayistik enthält. Natürlich entstammt all das einer weit zurückliegenden Epoche, aber Reemtsma widmet sich in seiner Biografie nicht nur kenntnisreich dem Leben Wielands, sondern interpretiert minutiös seine Texte und liefert damit eine kluge und solide Lektüre-Einführung. Passenderweise erscheint im Wallstein Verlag eine Studienausgabe. Der erste Band, der „Aristipp“, den Arno Schmidt ein „unnachahmliches Großmosaik“ nannte, wurde von Reemtsma höchstselbst mitherausgegeben – für den Herbst ist der „Don Sylvio“ angekündigt.
Arno Schmidt, selbst ein Außenseiter der Literatur, erkannte früh Wielands herausragende Bedeutung. In einem Brief des „Erfinders der modernen deutschen Literatur“ selbst heißt es wiederum hintergründig: „Ich weiß recht gut, daß ich Etwas bin, und, unter uns gesagt, ich bin sogar überzeugt, daß ich, da wo ich stehe, ganz allein stehe und Niemand unter den Völkern mit mir ist noch war.“ Wer wollte das bestreiten?
Jan Philipp Reemtsma: Christoph Martin Wieland. Die Erfindung der modernen deutschen Literatur, C.H. Beck 2023, 704 Seiten, 38 Euro.
Christoph Martin Wieland: Aristipp und einige seiner Zeitgenossen, Wallstein 2022, 984 Seiten, 48 Euro.