Festtage

Staatskapelle zelebrierte Beethovens Religion

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Volker Tarnow
Jérémie Rhorer am Pult der Staatskapelle in der Philharmonie.

Jérémie Rhorer am Pult der Staatskapelle in der Philharmonie.

Foto: Peter Adamik

Zum Auftakt der Festtage führten die Staatskapelle und der Staatsopernchor Beethovens „Missa solemnis“ in der Philharmonie auf.

Die Säkularisierung von Kirchenmusik setzte ungefähr gleichzeitig mit der Glaubenskrise um 1800 ein. Geistliche Werke im Theater aufzuführen, bedeutete eine Abkehr von der liturgischen Zeremonie, zugleich aber eine Popularisierung, die strenge konfessionelle Grenzen überschritt. Insofern ist Beethovens 1823 vollendete „Missa solemnis“ die letzte musikalische Bastion gegen Atheismus und Nihilismus – ein persönlich inspiriertes Bekenntnis, das den Text des katholischen Hochamtes im Sinne einer humanistischen Weltanschauung umdeutet.

Die Aufführung des Werkes in der Philharmonie bezeugte den mit Beethoven verbundenen Epochenwandel schon rein quantitativ: Staatskapelle und Staatsopernchor boten bei den Festtagen am Sonntag Kräfte auf, die in keiner Kirche unterzubringen und übrigens dort auch nicht nötig wären. Ob sie im Konzertsaal nötig sind, ist die Frage, stießen doch Chor und Orchester streckenweise in akustisch nicht unbedingt wohltuende Regionen vor. Eigentlich logisch, dass immer größer werdende Veranstaltungsstätten immer mehr Mitwirkende erfordern. Der Physiker und Musikwissenschaftler Stefan Weinzierl hat errechnet, dass ein den Wiener Saalverhältnissen angepasstes Orchester der Beethovenzeit heutzutage in der Berliner Philharmonie tausend Leute umfassen müsste. Von dieser Dimension waren die Mitwirkenden dieser „Missa solemnis“ weit entfernt.

Allerdings spielte man damals auf völlig anderen Instrumenten, der Chor stand gewöhnlich vor dem Orchester und ganz vorn die Solisten. Es war erstaunlich zu erleben, dass Jérémie Rhorer, der mit seinem Orchester „Le Cercle de l’Harmonie“ sonst dem historischen Originalklang nachspürt, solche Abweichungen überhaupt nicht in Betracht zog. Er entlockte dem Orchester nur einmal, im instrumentalen Intermezzo zwischen „Sanctus“ und „Benedictus“, ein auffälliges Non-Vibrato, und vermied überhastete Tempi.

Die Mezzosopranistin Anna Kissjudit hinterließ einen großen Eindruck

Nach 75 Minuten war die Messe gesungen; Harnoncourt brauchte in der letzten Aufnahme seiner Karriere nur sechs Minuten mehr, um allerdings weitaus eindringlichere Botschaften zu formulieren, und seine Amsterdamer Aufführung beanspruchte gar 90 Minuten. Rhorer interessierte sich nicht für mystische Subtilitäten, er richtete sein Augenmerk auf die Balance der drei Gruppen.

Die funktionierte, abgesehen von einigen Passagen im dreifachen forte, auch sehr gut, wobei ihm das zwischen Chor und Orchester postierte, mit der Opernpraxis bestens vertraute Gesangsquartett die Aufgabe erleichterte. Camilla Nylund, René Pape und der Tenor Saimir Pirgu boten die solide, ansprechende Leistung, wie man sie von solch namhaften Solisten auch erwarten darf. Anna Kissjudit aber machte Sensation. Die ungarische Mezzosopranistin, seit kurzem festes Ensemblemitglied der Staatsoper, ließ eine geradezu luxurierend reiche Stimme mit Alt-Timbre hören, so durchdringend wie delikat.

Beethoven hat eifrig Christoph Christian Sturms 1776 veröffentlichte „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur“ studiert. Ohne dieses Buch würde die „Missa solemnis“ wohl anders klingen, und ohne die „Missa solemnis“ würde es schlechter stehen um den Glauben jenseits aller Dogmen. Jede Aufführung des Ausnahmewerkes beweist dies auf neue – mehr oder weniger überzeugend.