Mit einem Knall beginnt der Abend. Aus dem Schnürboden fällt ein mehrere Meter großes Heiner-Müller-Porträt in schwarz-weiß, und als es aushängt, knallt es wie ein Schuss. Dazu Licht, ein nächster Knall, rechts donnert eine Tür auf, Vidina Popov in beigefarbenem Overall. In maschinengewehrfeuerndem Sprechen bereitet sie uns vor auf das, was kommt: ein mit Bildgewalt und Gewaltbildern voller Abend über Krieg. Knapp ein Jahr nach dem Auftakt der Kriegstrilogie des bosnisch-kroatischen Regisseurs Oliver Frljić hat damit ihr Abschluss Premiere am Maxim Gorki Theater: „Schlachten“.
Hatte Frljić, der seit dieser Spielzeit auch als künstlerischer Co-Leiter des Gorki fungiert, im ersten Teil Textteile aus Büchners „Dantons Tod“ und Euripides‘ „Iphigenie“ miteinander verschnitten, bestand der zweite Teil aus einer gestrafften Version von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“. Für den Abschluss der Reihe greift Frljić auf die Collage-Technik zurück und montiert sehr unterschiedliche Texte ineinander, eigene, Dritttexte, hauptsächlich aber Texte aus drei Stücken von Heiner Müller, „Germania 3 Gespenster am Toten Mann“, „Schlacht“, am meisten aus „Philoktet“.
Es ist eine der ältesten, grundlegendsten, je nach Antwort niederschmetternde oder ermutigende Frage nach dem Wesen des Menschen: ob er geprägt sei von dem, was ihm gegeben, ob er ein naturdeterminiertes Wesen sei, oder ob er sich entwickeln, verändern, von gegebenen Voraussetzungen emanzipieren, ob Bildung einen Sinn haben könne; eine Frage, die manche Theaterliteratur seit zweieinhalbtausend Jahren mit einem Nein beantwortet. Das Stück zur Antwort: „Philoktet“.
Es geht um die Geschichte von Philoktet und seinen Bogen
Belegt zuerst bei Pindar, jenem griechischen Dichter und ersten Gesamtkünstler, der die Texte, die Musik und ihre Inszenierung besorgte. Als nächstes, knapp achtzig Jahre später zur Beginn der griechischen Aufklärung, beim 90-jährigen Sophokles, dann, kleiner Sprung, 2400 Jahre, beim knapp 40-jährigen Heiner Müller. Behandelt wird die Geschichte des Philoktet und seines Bogens, einer Waffe, die die Griechen im Krieg gegen Troja brauchen. Deshalb macht Odysseus sich auf, den samt Bogen auf eine Insel Ausgesetzten zurückzuholen.
Damit das klappt, nimmt er sich Neoptolemos hinzu, der Philoktet dazu bewegen soll. Da diesen Gewissensbisse plagen, im Recht dazu zu sein, löst Sophokles das Dilemma mit einem Deus ex Machina: Herakles, dem der Bogen ursprünglich gehört hatte, verhilft der Geschichte zu ihrem Recht und den Griechen vor Troja zu ihrem Bogen: Philoktet muss kämpfen, so wollen es die Götter. War das einfach, als man sie noch hatte.
Doch heute? Wie verhält es sich aus posthistorischer Perspektive mit der Notwendigkeit, mit der die Geschichte sich erfüllt, oder mit der Möglichkeit, sie zu gestalten? Ist es Philoktets Zwang und Natur, zum Kampf zurückzukehren? Wie verhalten wir uns dazu? Heiner Müller wusste sich in seiner unmissverständlichen Überzeugung nur einer Antwort nicht anders zu helfen als Sophokles‘ Schluss umzuschreiben, die Schraube weiter zu drehen und den göttlichen Zwang dem Menschen in seine Natur zu treiben: Sein Philoktet hat so viel Hass auf Odysseus, dem er seine Lage erst verdankt, dass er ihn töten will. Dies wiederum sieht Neoptolemos, rettet den Bedrohten – und tötet Philoktet. Der Bogen wäre frei. Der Mensch zur Entscheidung nicht. Er könnte vielleicht, unerheblich, denn er tut’s nicht.
Zwischendurch gibt es Aufforderungen zum Kriegeraten
Um diese Losung herum hat Oliver Frljić seine jüngste Regiearbeit gebaut. Hoffnung ist nicht. Vom ersten bis zum letzten Knall nicht. Beginnend mit Müllers großem Stalin-Monolog („Den Teufel treibt man mit dem Teufel aus“), umrahmt von Szenen, in denen die Geschichte mit Philoktets Bogen aufleuchtet, unterbrochen von Zwischenspielen, Ansprachen und Aufforderungen zum Kriegeraten, werden wir in die Hölle der Bilder gezogen, mit denen der Weg der menschlichen Kriegsgeschichte gepflastert ist.
In den ganzen Saal werden sie projiziert, die von Verstümmelung verunstalteten Gesichter, Kinderleichen und Zahlen der Kriegstoten seit Beginn der Geschichtsschreibung, untermalt von donnernder, dröhnender oder ab und zu zum Zwecke des diskrepanteren Schreckens barocker Soundkulisse, sogar die Wilhelm II. in seiner ganzen lächerlichen Grausamkeit ausstellende Kriegserklärung aus dem August 1914 kracht aus den Boxen. Müllers Konterfei hängt da längst nicht mehr.
Egal, um welchen Krieg es sich handelt – den Zweiten Weltkrieg natürlich, außerdem die Indochina-Kriege, die Kriege in Bosnien, Jemen, Syrien, Äthiopien und natürlich den Krieg in der Ukraine –, alle sind sie Ausdruck der moralischen Verkommenheit des Menschen und sein Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse. Wer könnte widersprechen. Denn das wussten wir schon vorher. Was wir gern gehört hätten, weil wir es doch oft vergessen, ist, wie der Mensch in all dem Grauen weiterlebt. Und warum er verzeihen kann. Denn ohne diese Art des Menschen, zu verzeihen, wäre kein Theater, das uns daran erinnern kann, wie gut wir darin sind, uns Dinge vorzustellen, die auch anders sein können.
Maxim Gorki Theater, Am Festungsgraben 2, Mitte. Tel. 20 221 115. Termine: 2. und 18. April