Sie hat alles erreicht. Sie ist die erste Chefdirigentin eines großen Orchesters in der klar männerdominierten Klassikbranche. Als Komponistin erzielte sie sogar den EGOT, hat also mit Emmy, Grammy, Oscar und Tony alle wichtigen Musikpreise eingeheimst. Weltweit wird Lydia Tár (Cate Blanchett) gefeiert. Gerade ist auch ihre Autobiographie „Tár über Tár“ erschienen. Nun erfüllt sie sich mit den Berliner Philharmonikern einen Traum. Alle Mahler-Sinfonien hat sie mit ihnen schon aufgenommen, nur die Fünfte steht noch aus, mit der will sie nun den Zyklus vollenden.
Mahlers 5. und das Kino? Klar, das kennen wir – als kongenialen Soundtrack in Luchino Viscontis Klassiker „Tod in Venedig“. Aber das ist fast schon zum Klischee geraten. „Vergessen Sie Visconti!“, schärft die Dirigentin den Musikern in der Berliner Philharmonie denn auch gleich ein. Sie will der Sinfonie vor allem mit „viel Liebe“ begegnen. Ob sie zu Liebe aber überhaupt fähig ist, das wird man im Laufe des zweieinhalb Stunden langen Films „Tár“, der am Donnerstag in die Kinos kommt, zunehmend bezweifeln.
„Tár“: Genießt diese Frau ihre Macht allzu sehr? Auch auf toxische Weise?
Die Zuschauer lernen diese (fiktive) Figur kennen bei einem Talk in der New Yorker Festival, wo sie warmherzig, aber auch bestimmt rüberkommt. Dann aber erleben wir sie auch in einer Meisterklasse, wo sie einen jungen, queeren, schwarzen Musiker vor allen anderen runterputzt, bis der wüst schimpfend den Saal verlässt. Genießt diese Frau ihre Macht allzu sehr, auch auf böswillige, toxische Weise?
Die offen lesbische Künstlerin ist liiert mit Sharon (Nina Hoss), die als Erste Violinistin auch die Konzertmeisterin des Orchesters ist. Zusammen haben sie eine kleine Tochter. Aber da ist auch eine junge Musikerin, die die Dirigentin sehr gefördert, dann aber fallen gelassen hat. Die schreibt ihr ständig Briefe. Und bringt sich schließlich um. War das mehr als eine rein berufliche Liaison?
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Auch Társ neue Assistentin Francesca (Noémie Merlant), die den Terminkalender der Künstlerin straff leitet, ist immer etwas angefasst. War auch da mal mehr als nur Berufliches? Und schließlich ist die Dirigentin sichtlich angetan vom Neuzugang des Orchesters, der jungen russischen Cellistin Olga (Sophie Kauer). Ein Interesse, das niemandem verborgen bleibt. Schon gar nicht Sharon.
Todd Field führt die Zuschauer in seinem Film in den elitären Klassikbetrieb ein, der den meisten ziemlich fremd sein dürfte. Und gibt auch Laien faszinierende und ungewöhnlich Einblicke. Von Probenabläufen. Kleinen Tricks, wie man Unsicherheiten überspielt. Besetzungs-Intrigen. Und Animositäten unter Maestros. Erst allmählich aber schält sich sein eigentliches Thema heraus. Den Machtmissbrauch in der Spitzenposition, bis hin zur sexuellen Ausbeutung.
Ein Psychodrama zwischen den Gräben von #MeToo und Cancel Culture
Das Provokante an dem Film ist, dass er hier eigentlich ein typisch toxisches Männerproblem anreißt. Explizit fällt der Name James Levine: jener langjährige Chefdirigent der New Yorker Met, der, nachdem junge Musiker ihm sexuellen Missbrauch vorwarfen, zur Persona non grata des Klassikbetriebs wurde.
Diese Art von Missbrauch durch ältere, weiße Männer scheint gängig und systemimmanent und niemanden mehr zu überraschen. Zum Skandalon dagegen wird es, wenn man die Verhältnisse umdreht und nun eine Frau in die Täter-Rolle stellt, wo Frauen doch sonst eher das Opfer sind. Ein Drama zwischen den Gräben von #MeToo und Cancel Culture.
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Cate Blanchett ist für diese Rolle eine ausgezeichnete Wahl. Weil sie bei aller Wärme, die sie ausstrahlt, doch immer auch etwas Unnahbares hat. Und diese Lydia Tár spielt sie mit einer Hingabe und einer Unbedingtheit, dass man ganz lange bei ihrer Figur bleibt. Auch wenn sie einem zunehmend unsympathisch und dann sogar unheimlich wird. Denn „Tár“ ist nicht nur ein Künstlerdrama fürs Arthouse-Publikum. Es entwickelt sich immer mehr zu einem Psychothriller.
Tickt diese Frau nicht mehr richtig? Oder will sie jemand in den Wahnsinn treiben?
Von Anfang an hat man das Gefühl, das etwas nicht stimmt. Tár hört Geräusche und hat quälende Träume, die nicht erklärt werden. Sie fühlt sich verfolgt. Und dann fängt immer wieder mitten in der Nacht in ihrer Wohnung ein Metronom an zu ticken.
Tickt diese Frau nicht mehr richtig? Verliert sie den Verstand? Oder will sie jemand in den Wahnsinn treiben? Am Ende weiß man selber nicht mehr, ob man noch alles glauben kann, was man sieht. Allzu tief ist der Fall, geradezu bösartig das Ende.
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„Tár“ ist auch ein grandioses Comeback: von Todd Field. Der Regisseur hat bislang gerade mal zwei Filme realisiert. Seinen Durchbruch hatte er 2001 mit „In The Bedroom“, dann kam vor 16 Jahren „Little Children“. Seither - nichts mehr. Jahr um Jahr tüftelte er an seinem neuen Film. Schrieb das Drehbuch explizit für Cate Blanchett. Und hatte große Angst, dass sie die Rolle ablehnen würde. Dann hätte man noch viele Jahre auf einen weiteren Filmwarten müssen. Wahrscheinlich konnte Cate Blanchett aber gar nicht Nein sagen, wenn man ihr eine solch ambivalente Rolle auf den Leib schreibt.
Bei den Oscars darf auch Berlin bibbern: Zu großen Teilen wurde der Film hier gedreht
Sie ist unheimlich, aber eben auch unheimlich gut als Lydia Tár. Es war die schwerste Rolle ihrer Karriere, wie sie zugibt. Aber sie hat sich ganz in sie hineingeworfen, hat sich von ihr aufzehren lassen. Und feiert nun Triumphe damit. Beim Filmfestival in Venedig wurde sie als beste Schauspielerin ausgezeichnet. seither gab es Preise über Preise, einen Golden Globe, den britischen BAFTA, zahlreiche Kritikerauszeichnungen, zuletzt den Preis von Amerikas Schauspielerverband.
Und mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie damit auch ihren dritten Oscar holen - nach „Aviator“ (2005) und „Blue Jasmine“ (2014). Auch Field selbst ist für den Oscar nominiert, sogar zwei Mal, für Regie und Drehbuch. Und sein Film ist mit sechs Nominierungen einer der Favoriten bei der Oscar-Verleihung. Da kann dann auch Berlin mitbibbern – wurde der Film hier doch zu größten Teilen gedreht. Weshalb ihm auch gerade erst auf der Berlinale noch ein großer Teppich ausgerollt wurde.
Drama USA 2022, 158 min., von Todd Field, mit Cate Blanchett, Nina Hoss, Noémie Merlant, Sophie Kauer, Mark Strong