Jürgen Flimm hat nicht nur als großer Theatermann Spuren im deutschsprachigen Kulturbetrieb hinterlassen, sondern auch im Berliner Politikbetrieb. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) würdigte den am Sonnabend im Alter von 81 Jahren gestorbenen Flimm auf Twitter als Intendanten und Regisseur, der die Bühnen geprägt habe: „Sein großes Herz, seine Zuversicht und sein feiner Humor werden nun fehlen.“ Der Regisseur war ein Freund von Altbundeskanzler Gerhard Schröder und gehörte zur beratenden SPD-Kulturschickeria in jenen Jahren, als es für Politiker noch zum guten Ton gehörte, sich in Opern- oder Theaterpremieren blicken zu lassen. Gern erzählte Flimm in kleinerer Runde darüber, wie man das in Deutschland neue Amt des Kulturstaatsministers auf den Weg gebracht hatte. Der Verleger und SPD-Politiker Michael Naumann bezog 1999 als erster das Berliner Büro.
Die amtierende grüne Kulturstaatsministerin Claudia Roth sprach am Sonntag von einem großen Verlust für die Theater- und Opernwelt nicht nur im deutschsprachigen Raum. Flimm sei über fünf Jahrzehnte einer der wichtigsten Botschafter der Opern- und Theaterkunst gewesen. „Unter seiner Regie entstanden viele wunderbare Inszenierungen, die vom Publikum und von der Kritik im In- und Ausland gefeiert wurden“, erklärte Roth. Die Politik möchte zuerst den Künstler und weniger den kulturpolitischen Aktivisten Flimm würdigen. Dabei hatte er von 1999 bis 2013 als Präsident des Deutschen Bühnenvereins der Politik immer wieder auch die Leviten lesen müssen. Flimm war einer der meinungsstärksten Regisseure und Intendanten in Deutschland.
Flimm inszenierte in Mailand, London, New York, Wien und in Bayreuth
Flimm habe an „nahezu allen großen Häusern“ gearbeitet“, heißt es im Nachruf der Staatsoper Unter den Linden; „so etwa an der Mailänder Scala, am Royal Opera House Covent Garden London, an der Wiener Staatsoper, an der Metropolitan Opera New York sowie bei den Bayreuther und den Salzburger Festspielen. Als Regisseur wie als Intendant habe er Maßstäbe gesetzt. Ebenso führte er Regie bei Film- und Fernsehproduktionen und war als Schauspieler zu erleben.“ Flimm hatte tatsächlich mal in zwei „Tatort“-Folgen mitgespielt. Wer den Nachruf der Staatsoper aufmerksam liest, wird die Staatsoper selbst nicht in der Auflistung der Orte seiner großen Regietriumphe finden. Tatsächlich hatte Flimm 2010 sein Amt als Intendant der Staatsoper Unter den Linden mit dem Versprechen angetreten, nicht selber inszenieren zu wollen.
Genau genommen war Flimm der Intendant des Schiller-Theaters in Charlottenburg, wohin das Staatsopern-Ensemble während der Generalsanierung des Stammhauses in Mitte zog. Flimm war zuerst als Krisenmanager gefragt. Er war der Vertraute des Generalmusikdirektors Daniel Barenboim. Ihm hielt er jahrelang treu den Rücken frei. Denn die Sanierung der Staatsoper wurde zum Riesentheater. Die meisten werden es vergessen oder verdrängt haben, aber jahrelang wurde Berlin wegen seiner beiden Skandalbaustellen – Flughafen BER und Staatsoper – in ganz Deutschland und darüber hinaus ausgelacht. Und immer wieder wurde nach vermeintlich Schuldigen gesucht. Einmal waren es Baupfähle aus dem 17. Jahrhundert, die zur nächsten Verzögerung und Verteuerung führten. Flimm warf sich aber öffentlich dazwischen, wenn Stardirigent Daniel Barenboim etwa wegen seines Wunsches, die Nachhallzeit im Saal zu verbessern, der Verschwendung bezichtigt wurde.
Sieben Jahre zog sich die Sanierung hin. 2017 wurde die Staatsoper wiederöffnet, im Frühjahr darauf übergab Flimm die Leitung vollständig an Matthias Schulz. An der Seite von Daniel Barenboim war der etwas hemdsärmelige Flimm immer auch der Vermittler in SPD-Kreise hinein. Der Feingeist Michael Naumann wurde Gründungsdirektor der Barenboim-Said Akademie, die auf der Rückseite der Staatsoper entstand. Barenboim selbst pflegte eher die Kontakte zur CDU-Kanzlerin Angela Merkel. Die Staatsoper befand sich in sicherem Fahrwasser.
Natürlich konnte der ebenso humorvolle wie umtriebige Jürgen Flimm nicht ganz auf seine Bühnenarbeit verzichten. In Erinnerung geblieben ist 2015 seine bezaubernde Inszenierung von Mozarts Oper „Die Hochzeit des Figaro“, deren Handlung Flimm in ein Seebad der 1920er-Jahre verlegte. Ein Sehnsuchtsort für Affären – mit Staatsopern-Sopranistin Anna Prohaska als verführerische Susanna.
Im Schiller-Theater trafen sich Flimms Schauspieler aus Hamburger Zeiten
In der kleinen Werkstatt des Schiller-Theaters kam bereits 2011 eine kleine, aber wilde Erik-Satie-Produktion unter dem Titel „Wissen Sie, wie man Töne reinigt? Satiesfactionen“ zur Premiere. Das war Flimms Herzblut. Und die Besetzung war vielsagend. Jan Josef Liefers, Stefan Kurt und Klaus Schreiber waren alle als Jungschauspieler in den 1990er-Jahren am Hamburger Thalia Theater engagiert und sind seitdem befreundet. Ihr Intendant hieß damals Jürgen Flimm.
Joachim Lux, amtierender Intendant des Hamburger Thalia-Theaters, sprach am Sonntag in seinem Nachruf von einem leidenschaftlichen Theatermenschen. „Jürgen Flimm war einer der herausragenden Intendanten der Republik, kunstsinnig, schlitzohrig und publikumsverliebt.“ Flimm stand von 1985 bis 2000 an der Spitze des Hamburger Theaters.
Seine Regiekarriere hatte Jürgen Flimm 1968 als Assistent bei Fritz Kortner und Claus Peymann an den Münchner Kammerspielen gestartet. Als Theaterleiter in Köln sorgte er von 1979 bis 1985 für eine goldene Ära. Das Thalia-Theater machte er als Intendant zur bestbesuchten Bühne Deutschlands. Flimm leitete die Ruhrtriennale und die Salzburger Festspiele. Der amtierende Intendant Markus Hinterhäuser erinnert in seinem Nachruf an den Vorgänger. Flimm habe Akzente mit konsequenter Nachwuchsförderung und als Intendant mit einem fein gesponnenen thematischen Gesamtkonzept gesetzt. Als „Zeichen der Trauer und der Dankbarkeit“ wehte eine schwarze Fahne am Festspielhaus. An den Theaterguru wird jetzt vor allem in Köln, Hamburg oder Salzburg erinnert.
Bereits 2013 erlitt Flimm einen Schlaganfall. In der Staatsoper wurde er zuletzt Ende 2019 am Rande der „Samson et Dalila“-Premiere von Freunden und Verehrern geherzt. Er war von einem schweren Reitunfall gezeichnet. Er sei dem Tod noch mal von der Schippe gesprungen, scherzte er damals voller Zuversicht. Jürgen Flimm ist am Sonnabend in Hamelwörden bei Hamburg gestorben.