Sachbuch

Iris Sayram: Eine Kindheit am Rande der Gesellschaft

| Lesedauer: 9 Minuten
Rebekka Stauber
Iris Sayram ist Juristin und Journalistin. Sie arbeitet für den RBB.

Iris Sayram ist Juristin und Journalistin. Sie arbeitet für den RBB.

Foto: Sergej Glanze / FUNKE Foto Services

Die Mutter Prostituierte, der Vater Junkie: Iris Sayram hat die Geschichte ihrer Herkunft aufgeschrieben. Ein Gespräch.

Die Familie lebte im Kölner Friesenviertel zwischen Puffs, Bars und Drogenabhängigen. Und mittendrin: die kleine Tochter Iris. Immer wieder wurde der Strom abgestellt, die Mutter war mehrmals im Gefängnis: Als Kind war Iris Sayram häufiger in der JVA Köln als in der Stadtbibliothek. Heute ist sie preisgekrönte Journalistin und promovierte Juristin. In ihrem Buch „Für Euch“ erzählt Iris Sayram die Geschichte ihres Werdegangs.

Was hat Sie veranlasst, Ihre Geschichte aufzuschreiben?

Mein Leben lang habe ich versucht, mich und meine Familie zu verstecken. Ich habe mich angepasst, mich verleugnet und mich dadurch fast bis zur Unkenntlichkeit innerlich verstümmelt. Ich habe mich wirklich mein Leben lang in die Gedankenwelt anderer Menschen versetzt und mitgefühlt: „Oh, Thailand klappt nicht? Ach, das tut mir leid, wie schade“. Eigentlich dachte ich mir: „Cry me a river, dann fliegste halt nach Malle, auch egal“. Ich konnte nirgendwo hinfliegen oder hatte ganz andere Sorgen, weil meine Mutter todkrank im Krankenhaus lag. Als meine Mutter dann starb, ist eine richtige Wut in mir aufgestiegen, warum ich das all die Jahre gemacht habe. Warum ich geschwiegen habe, wenn mal wieder über diese „Assis“ gesprochen wurde, über „Hartzis“ oder „Kanaken“. Ich wollte in die Welt rauszuschreien, wie es sich wirklich lebt am Rand der Gesellschaft, in meiner Parallelwelt. Meine Mutter und mein türkischer Vater haben zwar viel Mist gebaut, aber sie waren auf ihre Art dennoch unfassbar tolle, liebevolle Eltern. Es ist für mich wie ein Coming-out und ich hoffe, dass vielleicht das ein oder andere Kind in einer ähnlichen Situation ermutigt wird, weil es sieht: es gibt einen Weg da raus.

Lebten nicht beim Schreiben unschöne Erinnerungen wieder auf?

Ja! Es war total schmerzhaft beim Tod meines Vaters. Ich habe tatsächlich Erleichterung gespürt, als er gestorben ist. Nicht nur, weil sein Leid beendet war. Er war tot, so konnte ich Fragen über ihn abblocken. Das hat mich erschüttert, als ich mir das beim Schreiben in Erinnerung gerufen habe. Da bin ich an meine Grenze gekommen. Oder natürlich auch das Verleugnen meiner Mutter. Das sind so Sachen, die mir bis heute total nachhängen, weil das einfach scheiße war.

Ihre Mutter ist ja dann auch ins Gefängnis gekommen. Wie war das für Sie?

Das war ein Faustschlag mitten ins Gesicht. Ich war damals zehn oder elf Jahre alt. Dunkel konnte ich mich zwar auch schon vorher an eine Verhaftung erinnern. Ich habe damals geschrien und geweint und meine Mutter fest umklammert, als der Polizist sie förmlich von mir wegzerren musste. Dieses Ventil, dieses Ausrasten habe ich bei der zweiten Verhaftung nicht gehabt. Ich war eher gelähmt und regungslos, als ich es erfuhr. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich habe auf diesem Balkon gestanden in der Wohnung meiner Mutter und dachte, ich lass mich jetzt einfach fallen. Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit wünsche ich keinem. Meinem Vater ging es auch so schlecht. Er war stark abhängig und musste kalt entziehen. Er konnte nicht in eine Entzugsklinik, weil ich dann ins Kinderheim gekommen wäre. Das war meine größte Angst, dass ich auch meinen Papa verliere.

Wann haben Sie gemerkt, dass Ihre Familie anders ist? Gab es da so einen Moment?

Ich habe es erstmal gar nicht gemerkt. Ich dachte: „Ist halt so“: Diese Brutalität dieser Straße mit den ständigen Sirenen der Polizei, die lauten Schreie und Schlägereien. Wobei wir – so schräg es klingt – auch immer sehr viel gelacht haben zu Hause, es war so eine unbändige Lebenslust. Wir haben die Dinge genommen, wie sie sind und das Beste daraus gemacht. Aber klar, in der Grundschule habe ich dann schon gemerkt, dass die Dinge bei Anderen ganz anders laufen. Montags wurde in der ersten Stunde vom Wochenende erzählt. Klassenkameraden berichteten von tollen Ausflügen oder vom Essengehen. Da dachte ich: Ok, besser Fresse halten.

Und da begann auch der Scham, den Sie im Buch so intensiv beschrieben haben…

In der Grundschule gab es die ersten Beleidigungen. „Wie siehst du denn aus? Was hast du denn an?“ Die Lehrerin hat mich beiseite genommen und gesagt: „Wenn du dich anders anziehen würdest, hättest du nicht so Schwierigkeiten in der Klasse.“ Als uns der Strom gesperrt wurde und ich mir die Haare nicht waschen konnte, riefen sie mich „Fettmatte“. Ein Junge hat mal gesagt, „deine Mutter sieht aus, als wäre sie in ein Farbtopf gefallen.“ Er spielte darauf an, dass sie sich prostituiert. Oder die Szene mit der Familie meiner Mutter: Ich wurde ausgelacht, als ich gesagt habe, ich möchte Abitur machen. Wenn es einen game changer in meinem Leben gab, dann war es, dieses Lachen zu hören. Da habe ich mir gedacht: Jetzt zeige ich es dir!

Sie haben es geschafft, haben Jura studiert. Woher hatten Sie den Antrieb, ohne Vorbilder zu Hause, ohne Unterstützung?

Doch, ich hatte Vorbilder – negative. Es gab Menschen im Freundeskreis meiner Eltern, die verstorben sind oder die Schläge, die mache Frauen kassiert haben – das hat mich fertig gemacht. Ich wollte auch nicht, dass die Polizei ständig im Haus ist. Daher kam der Antrieb. Und natürlich meine Eltern, die nie einen Zweifel daran gelassen haben, dass ich werden kann, was auch immer ich werden will.

Wie beurteilen Sie die Aufstiegsmöglichkeiten in Deutschland?

Schlecht. Ausrufezeichen! Klar, sieht es formal gut aus: die Schulen sind umsonst, die Unis fast auch! Aber praktisch ist das totaler Bullshit. Bildung kostet so unfassbar viel Geld. Es macht einen riesigen Unterschied, in welcher Familie du lebst, wenn du in der Schule nicht performst. Wer es sich leisten kann, bezahlt dem Kind Nachhilfe, es gibt Unterstützung bei den Hausaufgaben, super Lernmaterial – Bücher, Kurse. Ich habe Jura studiert und ich kenne keinen, der sein Examen ohne das sogenannte Repetitorium gewagt hat. Der Wiederholungskurs kostet immer noch um die 2000 Euro. Die Summe war für mich damals unerschwinglich. Obendrauf kommen die Crashkurse, Lehrbücher – und in meinem Fall die normalen Lebenshaltungskosten: Miete, Strom, Telefon, Essen. Die Wahrscheinlichkeit, unter den Voraussetzungen ein gutes Examen zu machen, ist sehr niedrig. Ich bin kein Wunderkind, ich bin ganz normal. Ich habe einfach Glück gehabt. Wie viele haben dieses Glück nicht? Und das finde ich so wahnsinnig ungerecht, dass es hier keine zündende politische Idee gibt.

Sie haben zwei Kinder. Wie fließt Ihre Geschichte in die Erziehung ein?

Mir ist wichtig, dass die Kinder wissen, wo sie herkommen, dass unser Wohlstand nicht selbstverständlich ist. Ich bin jetzt nicht reich, aber die Sorge davor, aus der Wohnung zu fliegen oder den Strom gesperrt zu bekommen, ist nicht da. Am liebsten putze ich die Wohnung selbst. Die sollen nicht auf die Idee kommen, dass man einfach jemanden dafür bezahlt, dass er einem die stinkigen Socken wegräumt. Auch den Konsum versuchen wir zu begrenzen – wobei ich das bei mir selbst immer noch nicht auf die Reihe bekomme. Es sitzt zu tief, Geld immer direkt ausgeben zu müssen. Im Transferleistungsbezug durften wir nichts ansparen.

Wie blicken Sie auf die Debatte nach den Vorfällen in der Silvesternacht in Berlin?

Mit gemischten Gefühlen. Ich kann mich gut erinnern, wie mein Vater seine „Gasplemm“, oder wie man sie heute nennt: Schreckschusspistole, rausgeholt hat und wir damit mehrmals hintereinander in die Luft geballert haben. Auch Raketen haben wir natürlich nicht aus einer Glasflasche gezündet, sondern mein Vater hielt sie in der Hand. Und ich kann sogar ein ganz kleinwenig dieses Katz- und Maus-Spiel mit Ordnungsbehörden nachempfinden. Aber dieses Jahr war es einfach nur noch völlig irre. Das ist eine Respektlosigkeit, eine Scheiß-Egal-Einstellung, die sich nicht mit der Nationalität erklären lässt. Doch drehen sich jetzt die Diskussionen um so irre Details wie Vornamen. Ich wundere mich auch ein wenig darüber, warum es der Stadt so schwerfällt, hier stärker durchzugreifen – und zwar noch in der Nacht die entsprechenden Straßen zu räumen, die Situation aufzulösen. Dieses geschehen lassen führt meines Erachtens ebenfalls dazu, dass die Hemmschwelle für Übergriffe sinkt – nicht nur an Silvester, nicht nur in Neukölln.