Hundert Abende, hat Igor Levit ausgerechnet. Hundert Abende könnte er Klavier spielen, ohne ein einziges Stück aus seinem Repertoire zu wiederholen. Man glaubt es ihm sofort – und erinnert sich an Beethovens sämtliche 32 Klaviersonaten, die Levit aufgenommen und bereits mehrfach aufgeführt hat. Oder an diverse XL-Variationszyklen und Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen op. 87. Ebenfalls unvergessen: jene 53 Hauskonzerte, die der Berliner Pianist in der Corona-Krise auf Twitter gestreamt hat.
Doch auffällig an Levits Repertoire ist nicht nur die ungeheure Breite. Er hat darüber hinaus auch eine Vorliebe für Composer-Pianists. Für Komponisten also, die zugleich virtuose Pianisten sind oder gewesen sind.
Da passt es, dass Levit an diesem Mittwochabend gleich vier Composer-Pianists miteinander kombiniert: Johannes Brahms und Ferruccio Busoni, Fred Hersch und Franz Liszt. Die Philharmonie ist derweil ausverkauft bis unters Dach, die Podiumsplätze sind auf dicht gedrängte zehn Reihen erweitert.
Die Raritäten finden sich auf Levits Album „Encounter“
Und das, obwohl Levit in der ersten Konzerthälfte ziemlich unbekannte Dinge spielt. Unbekannte Dinge freilich nur für diejenigen, die nicht zur Levit-Fangemeinde gehören. Zunächst sind da sechs Orgel-Choralvorspiele des späten Brahms in der Klavierfassung von Busoni. Raritäten, die auch auf Levits Album „Encounter“ zu finden sind.
Milde Melancholie lässt Levit hier jetzt walten. Wohlklang und inniges Singen. Es ist ein Klavierspiel, das die Zuhörer streicheln und trösten möchte. Ein Klavierspiel der feinen Farben. Gerade dort, wo Brahms und Busoni nach romantisiertem Bach klingen, berührt Levit besonders: Zum Weinen schön seine Interpretation der beiden „Herzlich tut mich verlangen“-Choralvorspiele op. 122 Nr. 10 und Nr. 4.
Was Levit dagegen scheut, sind die scharfen Kontraste, die Ecken und Kanten. Sogar Liszts dramatische h-Moll-Sonate am Schluss klingt unter Levits Händen eher lyrisch und flächig.
Der Pianist überwältigt mit einem Reichtum an Klangfarben
Und das ist nicht so sehr eine Frage der Lautstärke. Es liegt eher an Levits Klangästhetik: Selbst im tosenden Fortissimo bleibt sein Ton rund und gesittet, gehüllt in üppige Pedalschleier. Spannung stellt Levit nicht über Kampf und Konflikt her. Sondern über seinen überwältigenden Reichtum an Klangfarben. Und dieser Reichtum kommt vor allem in den intimeren Momenten zum Tragen – was auch für Richard Wagners „Tristan und Isolde“-Vorspiel gilt.
Und zuvor für Fred Herschs „Variations on a Folksong“. Ein Crossover-Werk, das der New Yorker Jazz-Pianist eigens für seinen Freund Levit geschrieben. Ein Werk, das neben raffinierten Jazzakkord-Progressionen auch überraschend viele Sprünge durch die europäische Romantik bietet. Inklusive faszinierender Nachempfindungen à la Schumann und Skrjabin, Debussy und Chopin. Hersch und Levit scheinen Brüder im Geiste zu sein. Beide beseelt vom Verlangen nach Schönheit und Klanggenuss. Und beide verbunden durch das Vorhaben, die Grenzen zwischen Klassik und Jazz aufzuheben.