Premiere

Deutsches Theater: Tschechows „Platonow“ im Altersheim

| Lesedauer: 6 Minuten
Katrin Pauly
Gespräche unter älteren Herrschaften: Triletzki (Manuel Harder), Woinitzew (Enno Trebs) und Anna Petrowna (Katrin Wichmann).

Gespräche unter älteren Herrschaften: Triletzki (Manuel Harder), Woinitzew (Enno Trebs) und Anna Petrowna (Katrin Wichmann).

Foto: Arno Declair

Regisseur Timofej Kuljabin inszeniert Tschechows fragmentarisches Frühwerk zwischen Humor und Tragik.

Völlig regungslos sitzt Anna Petrowna in ihrem niedrigen Sessel. Und sieht dabei zwar ein bisschen verrutscht, aber trotzdem irre elegant aus: Auf den geschlossenen Augenlidern sieht man den Lidschatten, um ihre Schulten liegt ein helles Tuch aus Spitze, der Gehstock lehnt seitlich an der Lehne. Aber sie rührt sich nicht, sie wird doch nicht etwa…? Sicherheitshalber fasst der eintreffende Nikolai Triletzki ihr ans Handgelenk, dorthin, wo man den Puls fühlt. Man kann ja nie wissen, hier im Altersheim, wo der Tod nun mal irgendwie auch wohnt.

Der Ort, an dem wir uns befinden, wird zu Beginn eingeblendet, ganz oben auf dem aus weißen, schon etwas lädierten Holzbrettern bestehenden Bühnenaufbau: „Ein Seniorenheim für die Veteranen der Bühne. Irgendwo in Russland“ ist da zu lesen. Das mit dem Irgendwo im russischen Nirgendwo ist auch bei Tschechow schon so. Das mit dem Seniorenheim nicht. Diesen Ortswechsel hat sich der aus Russland stammende und seit dem Ukraine-Krieg im Exil lebende Regisseur Timofej Kuljabin für seine Inszenierung von Anton Tschechows Erstling „Platonow“ am Deutschen Theater ausgedacht.

Ohne Kürzungen würde es mehr als sieben Stunden dauern

Als Tschechow das Stück schrieb, ging er noch aufs Gymnasium. Entdeckt wurde es erst 1920, rund 15 Jahre nach seinem Tod im Nachlass. Es ist ein ausuferndes, fragmentarisches Werk, das aber manche seiner späteren Zentralthemen bereits erkennen lässt. Wollte man es ungekürzt aufführen, würde das, so wurde berechnet, ungefähr siebeneinhalb Stunden dauern. Timofej Kuljabin nun hat es, gemeinsam mit Roman Dolzhankiy, in eine Bühnenfassung gebracht, für dessen Aufführung er gerade einmal zweieinhalb Stunden braucht. Sein Thema ist die Endlichkeit, die die Sehnsüchte noch mal auflodern lässt und die nicht gelebten oder abhanden gekommenen Gefühle wiedererweckt.

Aber vorerst dämmern sie hier alle noch so vor sich hin, man spielt Schach, löst Kreuzworträtsel und parliert im ebenfalls etwas in die Jahre gekommenen Ambiente über vergangene Zeiten. Auch Anna Petrowna ist nicht, wie der Anfangsgag kurz suggerieren sollte, tot. Sie fiebert der angekündigten Ankunft des Michail Platonow entgegen. Seines Zeichens ein mittlerweile ausrangierter Schauspieler, dem die Frauen einst zu Füßen lagen. Das tun sie immer noch, nicht nur die Petrowa.

Alte und neue Flirts, Rivalitäten und Leidenschaften treten zutage und die vom Regisseur vorgenommene Verlegung ins Rentenalter verschiebt ganz von selbst auch den dahinter liegenden Antrieb. Platonow zum Beispiel ist im Original noch keine 30 Jahre alt, hier ist er mindestens 45 Jahre älter. Bei Tschechow handelten die Figuren auch aus Langeweile und Lethargie, hätten aber, rein theoretisch, noch die Chance gehabt, das noch vor ihnen liegende Leben anders zu gestalten (wofür ihnen allerdings letztlich die Stärke fehlt). Für diese greise Seniorengesellschaft nun aber ist dafür nicht mehr viel Zeit. Sich der Leere ihres bisherigen. Lebens bewusst, treiben sie ihre Herzen jetzt nochmal in wahnwitzige Verrenkungen, schwören sich Liebe, verabreden sich zum Stelldichein in der Wäschekammer. Hohl und unbefriedigend bleibt das alles trotzdem, genauso wie bei ihren literarischen Vorgängern. Das liegt vor allem an Platonow selbst, den Alexander Khuon als dandyhaften, narzisstischen Verführer gibt. Er verspricht allen alles, was sie hören wollen. Und löst nichts davon ein. Weil er selbst viel zu leer für echte Gefühle ist, viel zerrissener noch als die anderen.

Im ersten Teil des Abends ist das Ganze noch ein bisschen sehr komödiantisch angelegt. Da klappern die Türen zwischen den Liebesbeteuerungen, während (sehr schöne Idee!) auf einer Bühne im Hintergrund ein bunter Abend gestaltet wird, bei dem die Veteranen noch einmal das tun, was sie Zeit ihres Lebens am liebsten taten: spielen. Die ehemalige Soubrette singt, die Ex-Ballerina tanzt. Und vorne auf der Drehbühne, die vor der hellen Bretterwand immer wieder neue kleine Zimmerarrangements freilegt, spielen sie währenddessen in Zweierkonstellationen ebenfalls. Das Spiel heißt: Vergessen wir die Einsamkeit, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

Bemerkenswerte Verwandlung der Akteure

Die Herzen wollen hüpfen, die Körper können das allerdings nicht mehr. Maske und Ausstattung haben hier bemerkenswerte Arbeit geleistet: Falten, Furchen, Buckel, Bäuche überall, manche aus dem Ensemble sind wahrlich kaum wieder zu erkennen. Die Schritte sind trotz allerlei Gehhilfen kurz und wackelig, jedes Aufstehen ist begleitet von leisem Ächzen. Das ist durchaus unterhaltsam, ein paar Gebrechlichkeits-Gags weniger hätten es trotzdem auch getan.

Nach der Pause dann wird der Abend tragischer und deutlich stärker auch, weil berührender. Nach und nach suchen sie alle Platonow in seinem Zimmerchen auf und müssen tief enttäuscht erkennen, dass dieser ehemalige Schauspieler auch im wahren Leben ein Schauspieler blieb, dass nichts echt war und er nichts anderes als eine Projektionsfläche für ihre Sehnsüchte und Träume war. Aber immerhin: Diese von der Gesellschaft ausgemusterten Künstlerinnen und Künstler, sie haben noch einmal gespielt. Eine letzte Vorstellung. Mit Herzblut, wenngleich ohne Happy End. Auch das ist dieser Abend: ein Stück übers Spiel, übers Theater, über die Kunst. Die Bühne hinter der Holzwand, wo sie gerade noch einmal aufspielten, ist am Ende leer, jemand fegt aus. Sie wird nicht mehr gebraucht. Entweder weil keiner mehr gucken kommt. Oder weil jetzt keiner mehr spielt.

Deutsches Theater, Schumannstr. 13a, Kartentelefon 28 441 225. Nächste Termine: 29.09., 11.10. und 13.10.