Die Oper „The Wreckers“ (Strandrecht) war beim Glyndebourne-Picknick-Festival im Sommer als eine Art Wiederentdeckung gefeiert worden. In der Oper geht es um arme Küstenbewohner, die den Leuchtturm ausschalten, damit nachts Schiffe stranden.
Aber nicht alle machen beim archaischen Strandraub mit. Ethel Smyth’ dritte Oper, 1906 in Leipzig auf Deutsch uraufgeführt und als verstaubte Partitur von einem Bibliothekar der Royal British Library wiedergefunden wurde, wird in der Philharmonie am Sonntag von Robin Ticciati und seinem Deutschen Symphonie-Orchester konzertant aufgeführt. Der Brite Ticciati ist auch Music Director der Glyndebourne Festival Opera.
"Anekdoten gibt es ohne Ende über Ethel Smyth"
Am Nachmittag findet von 14 bis 18 Uhr nebenan im Curt-Sachs-Saal im Musikinstrumenten-Museum ein Symposium statt, dass sich mit der Opernkomponistin Ethel Smyth befasst. „Anekdoten gibt es ohne Ende über Ethel Smyth“, sagt Musikforscherin Marleen Hoffmann, „aber die berühmteste ist, als der befreundete Dirigent Thomas Beecham sie 1912 im Frauengefängnis Holloway besuchte.
Im Innenhof des Gefängnisses sah er eine Gruppe von Suffragetten, die im Kreis marschierten und dabei Smyths March of the Women sangen. Er schaute dann hoch zum Fenster einer Gefängniszelle und sah Smyth, wie sie mit der Zahnbürste dirigierte.“
Marleen Hoffmann hat über Ethel Smyth promoviert und als einen Forschungsschwerpunkt musikwissenschaftliche Frauen- und Genderstudien. „Die Anekdote ist auch deshalb die berühmteste“, sagt sie beim Gespräch im Musikinstrumenten-Museum, „weil Ethel Smyth in den 1970er-Jahren zuerst als Suffragette, als Frauenwahlrechtlerin, wiederentdeckt wurde. Erst wesentlich später wurde sie von der Musikwissenschaft als ernstzunehmende professionelle Komponistin wahrgenommen.“
The March of Women wurde zur Hymne der englischen Frauenbewegung
Zweifellos muss die 1858 in der Grafschaft Kent geborene Ethel Smyth eine ebenso schillernde, kosmopolitische wie umtriebige Figur gewesen sein, die als Komponistin, Dirigentin, Literatin und Suffragette ihren Weg suchte. „Wenn es um feministische Veranstaltungen geht, dann ist ihre Hymne heute noch ein Muss. Wir hatten 2018 das Jubiläum 100 Jahre Frauenwahlrecht gefeiert, da wurde die Hymne häufig gesungen“, sagt Marleen Hoffmann. „Es ist eigentlich ein einfaches vierstrophiges Lied. Man kann das Publikum leicht einladen mitzusingen.“
Ihre zweimonatige Haftstrafe hatte Ethel Smyth bekommen, nachdem sie aus Protest gegen die Verweigerung des Frauenwahlrechts am 12. März 1912 die Fensterscheiben des britischen Kolonialsekretariats einwarf. Sie war damit Teil einer Londoner Gemeinschaftsaktion von insgesamt 150 bis 200 Frauen.
Eine der ersten Frauen, die die Philharmoniker dirigierte
Berlin spielt in Ethel Smyth’ Biografie eine Rolle. Sie gehört zu den ersten Frauen, die die Berliner Philharmoniker dirigiert hat. Davon gab es in den 1920er-Jahren mehrere, man war Künstlerinnen gegenüber aufgeschlossener.
„Das Konzert fand anlässlich ihres 70. Geburtstages im Dezember 1928 statt“, sagt die Smyth-Spezialistin. „Danach war sie noch einmal im Radio zu hören. Das Konzert war nur möglich, weil in Großbritannien Spenden gesammelt wurden. In Deutschland wurde sie immer als Vertreterin der englischen Komponistengeneration wahrgenommen.“
Die Hälfte ihrer Opern erlebte in Deutschland ihre Uraufführung
Drei von sechs Opern der Komponistin erlebten in Deutschland ihre großen Premieren. „Man muss wissen, dass die Uraufführung ihrer zweiten Oper ,Der Wald’ im April 1902 im Königlichen Opernhaus Berlin stattfand. Ihre erste Oper ,Fantasio’ kam 1898 in Weimarer Hofoper heraus. Vom ;Wald’ gab es vier Aufführungen“, sagt die Musikforscherin. „Sie hat auch den deutschen Kaiser getroffen, überhaupt war sie vorm Ersten Weltkrieg mit den Adelskreisen verbunden.
Die französische Exilkaiserin Eugénie war eine ihrer Unterstützerinnen.“ Allerdings sei sie 1902 als Britin ein bisschen angefeindet worden, so Marleen Hoffmann, „weil gerade die Burenkriege in Südafrika stattfanden. Deutschland war gegen das militärische Eingreifen Großbritanniens.“
In Leipzig durfte die junge Ethel Smyth studieren, nachdem sie auf ihre Eltern Psychoterror mit Hungerstreik und eisigem Schweigen ausgeübt hatte. Am Leipziger Konservatorium erhielt sie Kompositionsunterricht, aber sie war enttäuscht über die Larifari-Lehre. Und auch über die gesellschaftlichen Konventionen, der eine Frau unterworfen war.
Einmal musste sie sich verkleiden, um zu einem abendlichen Freilicht-Konzert im Rosenthal-Restaurant gehen zu können. Nach einem Jahr verließ sie das Leipziger Konservatorium und nahm bei Heinrich von Herzogenberg, dem Präsidenten des Leipziger Bachvereins, Privatunterricht. Die Herzogenbergs nahmen sie wie eine Ersatztochter auf. Auch die Geschichte sollte später kompliziert werden.
Brahms war Komponistinnen gegenüber ein Macho
Es ist die Zeit, in der sie Clara Schumann, Anton Rubinstein, Max Friedländer, Edvard Grieg kennen lernte und mit Mendelssohns jüngster Tochter eng befreundet war. Johannes Brahms verkehrte im Hause der Herzogenbergs. Aber Komponistinnen gegenüber war der ein Macho.
„Jeden Tag bin ich mehr und mehr von der Wahrheit meiner alten Erkenntnis überzeugt“, schrieb Ethel Smyth später, „dass der Grund, warum keine Frauen Komponisten geworden sind, der ist, dass sie geheiratet haben und dann, ganz richtig, ihre Ehemänner und Kinder an die erste Stelle gesetzt haben. Selbst wenn ich mich also verzweifelt in Brahms verlieben würde und er mir einen Heiratsantrag machen würde, würde ich nein sagen!“
Was Ethel Smyth’ Liebesbeziehungen zu Männern und Frauen anging, so schienen sie immer auch mit ihrem künstlerischen Schaffen verbunden zu sein. „Niemand weiß hundertprozentig, wer mit wem“, sagt die Biografin. „Aber man kann sagen, ihr Opernlibrettist, der amerikanische Philosoph Henry Brewster, spielte für sie bis zu seinem Tod 1908 und auch darüber hinaus eine prägende Rolle.
Frauen standen ihr phasenweise nahe. In Leipzig war es Elisabeth von Herzogenberg, später soll sie mit Emmeline Pankhurst, der Anführerin des militanten Teils der Suffragettenbewegung, liiert gewesen sein. In ihrem späten Leben war es die jüngere Virginia Woolf. Auch durch diese Beziehung wurde Smyth später wiederentdeckt.“
Etliche Artikel hat die 1944 gestorbene Komponistin über Deutschland verfasst. „In einem beschreibt sie ihre Reise 1922 nach Deutschland und wie sich das Land durch den Ersten Weltkrieg verändert hat“, sagt Marleen Hoffmann. „Der deutschsprachige Raum war für sie das gelobte Land. Sie schätze das Kennerpublikum, das etwas von Musik verstand.
In Bezug auf England setzte sie sich auch mit dem Topos des Landes ohne Musik auseinander und ging davon aus, dass es 200 Jahre lang kein ernstzunehmendes Musikleben besaß und nun wieder erwachte.“
Darüber hinaus habe sich auch geglaubt, so die Forscherin, „dass sie in Deutschland nicht durch ihr Geschlecht benachteiligt worden sei. Das empfand sie in Großbritannien ganz anders.“ Das Symposium am Sonntag trägt den Untertitel „Komponistinnen auf dem Vormarsch“. Für Marleen Hoffmann eine klare Ansage. „Es gibt mittlerweile einen Kanon an Komponistinnen. Ethel Smyth zählt definitiv dazu.“
Philharmonie: DSO-Konzert unter Robin Ticciati am 25.9. um 19 Uhr. Musikinstrumenten-Museum: Symposium von 14 bis 18 Uhr.