Berliner Ensemble

Ein dystopischer Krimi fürs virtuelle Zeitalter

| Lesedauer: 3 Minuten
Katrin Pauly
„Die Netzwelt“ im Berliner Ensemble.

„Die Netzwelt“ im Berliner Ensemble.

Foto: JR Berliner Ensemble

Das Berliner Ensemble zeigt mit „Die Netzwelt“ ein Stück über den Missbrauch im Internet.

Das sieht nach einer ganz normalen Verhörsituation aus wie wir sie regelmäßig sonntags im „Tatort“ serviert bekommen: Plastikklappstühle, ein Tisch mit Mikrofon, graues Ambiente, Neon-Licht, eine verbissene Ermittlerin und ein Vorgeladener, der sich rauszureden und die Ermittlerin dabei vorzuführen versucht. Doch der Fall, der hier zur Saisoneröffnung des Berliner Ensembles im Neuen Haus verhandelt wird, ist weit entfernt von der üblichen „Tatort“-Realität. Ob er überhaupt der so genannten Realität zuzuordnen ist, und wenn ja, welcher, das ist Teil des Problems.

Mit ihrem bereits 2013 uraufgeführten Stück „Die Netzwelt“ hat die US-Autorin Jennifer Haley einen dystopischen Krimi fürs virtuelle Zeitalter geschrieben. Es gibt darin neben der „Realwelt“ eben auch die so genannte „Netzwelt“, ein simuliertes, virtuelles Abenteuerland, in dem alles möglich ist. Auch das Schlimmste. Die Grenzen der beiden Welten werden durchlässiger.

Das macht die Sache nicht einfacher für Ermittlerin Morris (Kathrin Wehlisch). Dem zum Verhör geladenen Mr. Sims (Nico Holonics) wird Schwerwiegendes zur Last gelegt. Die von ihm entworfene und kontrollierte Domäne namens „Refugium“ ist eine programmierte Unterwelt der Lust und des Missbrauchs, in der virtuelle Menschen ihre perversen sexuellen Obsessionen an virtuellen Kindern ausleben können. Cedric Doyle (Veit Schubert), Lehrer, 65, verheiratet, Vater, ist einer, der dort regelmäßig unterwegs ist.

Ein Fall fürs Strafrecht oder für den eigenen moralischen Kompass

Dass es dieses „Refugium“ gibt, bestreitet Mr. Sims nicht, er sieht nur nichts Unrechtes darin, Menschen auf diese Weise, bei der kein echtes Lebewesen zu Schaden komme und auf Basis der „Statuten für einvernehmliches Rollenspiel“ sanktionsfreie, größtmögliche Freiheit und Gefühlsintensität zu offerieren. Immer noch besser, so argumentiert er, als wenn sie ihre Neigungen in der Realwelt ausleben würden. So einfach ist die Sache für die Ermittlerin Morris nicht: „Bilder erschaffen Realität“, sagt sie. Fragt sich nur, ob das ein Fall fürs Strafrecht oder den eigenen moralischen Kompass ist.

Regisseur Max Lindemann, Jahrgang 1989, konzentriert sich in seiner Inszenierung auf den argumentativen Schlagabtausch – und das Ensemble liefert ab. Allen voran Nico Holonics als schlauer, leicht schmieriger Mr. Sims im Psycho-Duell mit Kathrin Wehlisch als tough wirkende Ermittlerin mit brüchiger Fassade. Sie ist emotional involvierter als es zunächst scheint.

Versehentlich kommen echte Gefühle ins Spiel

In der metallenen Rückwand des Verhörraums gibt es eine Aussparung, dort spielen sich die Netzwelt-Szenen ab, dort empfängt die neunjährige Iris (Philine Schmölzer) im Schulmädchen-Outfit ihre Gäste wie den undercover eingeschleusten Woodnut (Christian Erdt). Lange bleiben die beiden Welten nicht getrennt. Vor allem nicht im Moment der Eskalation.

Die geschieht, weil dann versehentlich doch echte Gefühle mit im Spiel sind. Diesen Erzählstrang der sich entwickelnden Gefühle allerdings lässt Regisseur Lindemann etwas zu beiläufig mitlaufen. Überhaupt hätten dem Abend ein paar deutlichere Akzentuierungen gutgetan, was aber nichts daran ändert, dass die Fragen, die hier gestellt werden, drängend sind. Geklärt werden müssen sie in der Realwelt. Solange die noch Relevanz hat.

Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1. Tel. 28408155. Nächste Termine: 23., 24., 25.9.