Wie konnte es zu den antisemitischen Darstellungen auf der documenta kommen? Eine Podiumsdiskussion scheiterte an dieser Frage

Es war der Versuch einer Deeskalation, nachdem schon alles aus dem Ruder gelaufen war. Die Kritik an der 15. Auflage der wichtigsten deutschen Kunstausstellung war zuletzt immer lauter geworden, nachdem auf ihr mehrere Werke mit antisemitischen Darstellungen ausfindig gemacht worden waren. Noch am Mittwoch waren mehrere Strafanzeigen bei Polizei und Staatsanwaltschaft in Kassel eingegangen. Dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auf den traditionellen Besuch in Kassel verzichten würde, war da schon bekannt, während sich Vertreter des Bundes und der Stadt Kassel Scharmützel über die künftige Finanzierung der Veranstaltung lieferten. Vor diesem Hintergrund kam es am Mittwochabend zu einer von der documenta und Museum Fridericianum gGmbH ausgerichteten Podiumsdiskussion, die landesweit auf Youtube ausgestrahlt wurde.

Wie konnte es zu diesen Grenzüberschreitungen kommen? Wie konnte es sein, dass sich in dem Wimmelplakat des indonesischen Kollektivs Taring Padi raffzähnige Figuren mit Schläfenlocken fanden, mitten in Deutschland im Jahr 2022? Oder dass Werke von Mohammed Al Hawajiri eingeladen wurden, in denen israelische Militäraktionen im Gazastreifen mit dem Bombardement der spanischen Stadt Guernica durch die deutsche Luftwaffe im Jahr 1937 gleichgesetzt werden? Das war die Frage, die Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, einleitend stellte.

Und darum geht es jetzt. Insofern war es enttäuschend, dass auf dem Podium weder Vertreter der documenta noch des Kuratorinnenkollektivs Ruangrupa zugegen waren. Moderator Stefan Koldehoff begrüßte sie zwar im Publikum, aber sie kamen nicht zu Wort. Warum nicht? Es ging ja nicht allein um den Antisemitismus einzelner Werke, sondern auch um die im Vorfeld leicht zu beobachtende Tatsache, dass israelische und jüdische Künstlerinnen und Künstler überhaupt nicht eingeladen worden waren.

Wie also kam es dazu? Doron Kiesel, wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, konnte die Frage nur zurückgeben. Er erinnerte daran, dass die zugesagte Einbeziehung des Zentralrats im Vorfeld schlicht nicht stattgefunden habe. Warum und mit wessen Einverständnis dies unterblieb, konnte an diesem Abend nicht geklärt werden – und so sprach Kiesel auch verständlicherweise von den letzten zehn Tagen als „Ausdruck einer tiefen Vertrauenserschütterung“ und von „Bildern, über die sich Eichmann und Goebbels gefreut hätten“. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, erzählte, man sei seit Januar nicht mehr in der Lage gewesen, mit dem documenta-Team in den Dialog zu treten – der Begriff des „stillen Boykotts“, den er dabei anführte, scheint hier nicht nur naheliegend, sondern geradezu zwingend. Hortensia Völckers, künstlerische Leiterin der Kulturstiftung des Bundes, die die documenta mit 3,5 Millionen Euro fördert, verwies auf die Verantwortung der Institutionen und ihre Autonomie – bei 4000 geförderten Projekten müsse ihre Stiftung auf kuratorische Sorgsamkeit vertrauen.

Diese gab es in Kassel offenbar nicht – und die Ursachen harren weiter der Aufklärung. Auch die Redebeiträge von Adam Szymczyk, Kurator der letzten documenta, und von Nikita Dhawan, Professorin für politische Theorie in Dresden, konnten hier nicht weiterhelfen. Die Debatte darum und um mögliche antisemitsche Schlagseiten im postkolonialen Diskurs wird weiter andauern.