Längst zählt Barrie Kosky (55) zu den international gefragtesten Opernregisseuren. Sein Kalender sei fünf Jahre im Voraus ausgeplant, erzählt er beiläufig im Gespräch. Der gebürtige Australier, der von jüdischen Einwanderern abstammt, kam über Wien nach Berlin, wo er 2012 die Intendanz der Komischen Oper übernahm. Jetzt, nach zehn Jahren, gibt er das Amt wieder auf.
Es war eine von Überraschungen und Entdeckungen gekrönte Ära. Zum Einstand hatte Kosky die drei vollständig erhaltenen Monteverdi-Opern „Orpheus“, „Odysseus“ und „Poppea“ kompakt inszeniert. Zum Welterfolg wurde Mozarts „Die Zauberflöte“, die er gemeinsam mit der britischen Theatergruppe „1927“ als eine Art Comicfilm auf die Bühne brachte. 2013 inszenierte er Paul Abrahams 1932 uraufgeführte Jazz-Operette „Ball im Savoy“ mit Dagmar Manzel, Katharine Mehrling und Helmut Baumann in den Hauptrollen. Das sollte in mehrfacher Hinsicht seine Amtszeit prägen.
Kosky scharrte vertraute Künstler um sich. Und er wollte die in Berlin vergessenen jüdischen Operetten der 1920er-Jahre wieder ins Repertoire zurückholen. Mit der Premiere der „Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ verabschiedet sich jetzt der Hausherr.
Herr Kosky, Ihre Großmutter, die aus Budapest stammte, hatte Sie in Australien in die Oper verführt. Bis zum 18. Lebensjahr haben Sie 200 Opern in verschiedenen Inszenierungen gesehen. Ist das Voraussetzung, um ein erfolgreicher Opernintendant zu sein?
Barrie Kosky Nein, jede Intendantin, jeder Intendant macht eine eigene einzigartige Reise.. Es ist nicht notwendig, eine solche Zahl an Opern zu sehen. Für mich persönlich war es eine gute Schule. Eine Schule ohne Unterricht und Hausaufgaben. Meine Großmutter hat eine unglaubliche Arbeit geleistet. Es geht nicht nur um die Zahl der Opern, sondern welche ich gesehen habe. Es waren Janáčeks „Katja Kabanowa“, Wagners „Tristan und Isolde“ oder Bergs „Wozzeck“. Das sind Opern, die man normalerweise erst später im Leben sieht. Aber es war gemischt mit Puccinis „Tosca“ oder Bizets „Carmen“. In meiner Kindheit war die Welt der Oper wie die des Theaters, des Musicals und des Sinfoniekonzerts für mich wie Sauerstoff.
Warum wollten Sie, als Sie vor zehn Jahren die Leitung der Komischen Oper übernahmen, plötzlich Operetten und Musicals ausgraben?
Ja, warum kommt ein australischer Künstler nach Berlin und fragt danach, was im Schrank oder in der Bibliothek aus der Zeit der Weimarer Republik schlummert? Das ist eine gute Frage, denn viele Menschen kennen diese Stücke, Akademiker schreiben darüber und man kann in Büchern darüber nachlesen. Nur hatte sich der Musiktheaterbetrieb mit vielen dieser Stücke nicht mehr befasst. Das hatte mich überrascht. Ich wollte diese Juwelen auf die große Bühne zurückbringen. Mein Gefühl ist, dass sich der Hausgründer Walter Felsenstein mit einer eigenen Form der Operette beschäftigt hatte. Er liebte Johann Strauß und Offenbach. Felsenstein war ein genialer Operettenregisseur, aber ihn interessierte weniger die Geschichte seines eigenen Hauses, des ehemaligen Metropol-Theaters. Die Stücke, die wir ausgegraben haben wie „Ball im Savoy“ oder „Eine Frau, die weiß was sie will“ brauchen ein großes Format. Sie waren für die große Bühne geschrieben worden. Ich wollte deutlich machen, dass die Operette nicht nur etwas ist, was unsere Großeltern gehört haben. Operette ist nicht staubig oder spießig. Sie braucht heute nur eine besondere Qualität auf der Bühne.
Es handelt sich vorrangig um vergessene und verdrängte Werke jüdischer Komponisten. Was hat Sie bei der Wiederentdeckung am meisten überrascht?
Wir haben uns immer die Partitur zuerst angeschaut. Denn es gibt beim ersten Darüberlesen viele interessante Stücke, doch wenn man die Musik hört, muss man feststellen, dass die gar nicht so gut ist. Dann haben wir uns die Handlung vorgenommen. Wir haben festgestellt, dass in fast allen Fällen die Frauenrollen interessant waren. Die Frauenrollen in der Geschichte der Operette sind ein Thema für sich. Die Muse von Jacques Offenbach hieß Hortense Schneider, sie war eine sensationelle Darstellerin. Das war davor auf der Operettenbühne so nicht zu erleben. Im 20. Jahrhundert kommt diese Qualität erst mit Fritzi Massary und Gitta Alpár zurück. Es ist eine Revolution, denn ihre Texte sind witzig, sarkastisch, klug und kosmopolitisch. Eine so progressive Haltung war zur selben Zeit nicht auf dem Sprechtheater zu finden und auch nicht in der Oper. Komponisten wie Schreker, Zemlinsky oder Korngold haben auf die Femme fatal gesetzt, die Frauenrollen waren klischeehaft verrückt und krank. Deshalb ist es heute so schwer, diese Opern zu inszenieren.
Mit den Operetten wollten Sie die jüdische Identität der Berliner Musikgeschichte zurückholen. Gab es Widerspruch im Haus oder von außerhalb?
Nein, es gab nur Neugierde. Alle kennen „Die Fledermaus“, „Die lustige Witwe“ und ein paar Offenbach-Operetten. Im Haus habe ich schnell einen unglaublichen Stolz verspürt, weil viele Stücke hier auf der Bühne des Metropol-Theaters um die 1920er-Jahre herum gespielt worden waren. Wir haben auch nicht nur Werke jüdischer Komponisten gemacht. „Clivia“ stammt von Nico Dostal, einem Komponisten aus der Nazizeit. Dostal hatte seinen Erfolg erst, nachdem die jüdischen Komponisten weg waren. Aber die Partitur des Stücks ist super. Es bleibt ein Fakt, dass in den 20er-Jahren mehr als 80 Prozent der Stücke von jüdischen Komponisten und Autoren geschrieben wurden. Die Hälfte der Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne waren jüdisch. Das bedeutet – genau wie beim Broadway Musical –, es gibt einen großen Einfluss der jüdischen Kultur auf diese Form der Unterhaltung.
Als Intendant verlassen Sie jetzt das Haus, was wird von Ihrem Geist bleiben?
Ich hoffe, dass mein Geist bleibt, denn mein Körper wird weiter hier arbeiten. Es wäre für mich eine traurige Vorstellung, in den nächsten Jahren nicht mehr an der Komischen Oper Berlin zu inszenieren, egal ob im Schiller-Theater oder einem anderen Ausweich-Spielort während der Sanierung. Ich habe immer gesagt, ein Intendant darf sein Haus erst verlassen, wenn es in einem besseren Zustand ist als zu Beginn. Das Haus war in einem guten Zustand, dafür hatte mein Vorgänger Andreas Homoki richtige Kämpfe führen müssen. Um die Jahrtausendwende herum wurde infrage gestellt, ob Berlin drei Opernhäuser braucht? Die Komische Oper wäre das kleine Opfer für das große Berliner Finanzdrama gewesen. Jetzt sehe ich, was wir über die vergangenen zehn Jahre geschaffen haben. Die ganze Identität, die Stimmungen und Haltungen haben sich verändert. Es gibt mehr Selbstbewusstsein in der Komischen Oper Berlin. Und auf der Bühne können wir alles spielen.
Zum Abschied hat am heutigen Freitag „Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ Premiere. Der Titel verspricht Ungewöhnliches?
Ja, für das Publikum in Deutschland ist es etwas Außergewöhnliches. Der Titel vielleicht auch. Es kommt von meiner Liebe zur „Muppet Show“. Ich wurde mal gefragt, was auf meine Arbeit großen Einfluss hätte? Ich antwortete ohne zu zögern: Die „Muppet Show“ und Franz Kafka. Manchmal bringe ich beides zusammen. Und das ist eigentlich meine Arbeit. Die Muppets sind nicht nur wunderbar für Kinder. Die Show ist metaphorisch für unser Leben. Es gibt eine divers vielfältige Truppe: ein Schwein, ein Bär, ein Frosch oder ein Hund. Sie müssen alle miteinander arbeiten. Es gibt immer Chaos. Und sie müssen immer eine Lösung finden. Es ist das beste Vorbild für ein Opernhaus. Meine letzte Inszenierung als Intendant soll noch einmal an die „Muppet Show“ erinnern.
Es bleibt ein Opernhaus. Warum machen Sie keine große Oper oder große Operette zum Abschied?
Was mache ich mit den vielen wunderbaren Künstlern, die ich dabei haben möchte? Es gibt für mich keine Oper und keine Operette, in der Dagmar Manzel, Max Hopp, Katharina Mehrling oder die Geschwister Pfister gleichzeitig mitwirken können. Also machen wir eine Revue, was auch eine Berliner Tradition ist. Aber wir machen es etwas anders. Ich benutze eigentlich eine Form von jiddischer Kultur, die in Deutschland völlig unbekannt ist. Nach der Nazizeit lebte die jiddische Kultur in den 1950er- und 1960er-Jahren vor allem in zwei Ländern weiter: in Israel und in Amerika. Die jiddische Kultur ist in New York mit der Popkultur jener Zeit zusammen gekommen, mit Jazz, Latinomusik, Samba, Mambo und früher Popmusik. Es war eine Explosion in der Unterhaltungsmusik. Die fand insbesondere in den Catskill Mountains unweit von New York statt, wo es ein jüdisches Sommercamp mit Ferienhäusern, Hotels und Nachtclubs gab. Im so genannten Borscht Belt hörte man fantastische Acts etwa von Sammy Davis Jr. oder Mel Brooks. Barbra Streisand hatte dort angefangen und auch Bette Midler. Man spielte für ein überwiegend jüdisches Publikum. Es war wie ein Kibbuz ohne Politik. Es ist eine völlig andere Klangwelt als die in der Weimarer Republik. Das ist mein Abschiedsgeschenk. Ich möchte sagen: Nazis, ihr habt nicht gewonnen! Diese Kultur lebt weiter. Ich denke, das Berliner Publikum wird diese Musik lieben.
Komische Oper, Behrenstr. 55-57, Mitte. „Barrie Kosky’s All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue“ am 10., 12., 15., 18., 21., 23., 26. und 29.. Juni.