Staatsoper

Sir Simon Rattle: „Man bleibt in den Köpfen der Leute“

| Lesedauer: 9 Minuten
Volker Blech
Sir Simon Rattle beim Pressegespräch zur Premiere von 'Hippolyte Et Aricie' im Rahmen der ersten Barocktage in der Staatsoper Unter den Linden. Berlin, 09.11.2018

Sir Simon Rattle beim Pressegespräch zur Premiere von 'Hippolyte Et Aricie' im Rahmen der ersten Barocktage in der Staatsoper Unter den Linden. Berlin, 09.11.2018

Foto: Thomas Bartilla/Geisler-Fotopress / picture alliance / Geisler-Fotopress

Sir Simon Rattle dirigiert am Sonntag die Premiere von Janáčeks „Die Sache Makropulos“ an der Staatsoper.

An der Staatsoper Unter den Linden dirigiert Sir Simon Rattle, der mit seiner Ehefrau, der tschechischen Sängerin Magdalena Kožená, in Berlin lebt, seit Jahren regelmäßig Neuproduktionen. Am Sonntag wird Leoš Janáčeks Oper „Die Sache Makropulos“ in der Regie von Claus Guth Premiere haben.

Sir Simon, es soll sich diesmal um Ihre Lieblingsoper handeln. Das hat wohl noch nie ein Dirigent über diese tschechische Kriminaloper gesagt. Warum gerade „Die Sache Makropulos“?

Simon Rattle Ich liebe diese Oper, aber sie ist nicht meine Lieblingsoper. Bei Janáček ist es „Das schlaue Füchslein“. „Die Sache Makropulos“ ist natürlich eine unglaubliche Oper, aber sie ist so schwer aufzuführen, dass es einem nicht leicht fällt, sie auf die gleiche Weise zu lieben. Die Oper hat aber eines der fünf besten Libretti, die je geschrieben wurden. Wenn ich in die Partitur schaue, ertappe ich mich jedes Mal dabei, dass ich das Libretto noch einmal lese, weil es so außergewöhnlich und philosophisch ist.

Welche Thematik der Oper halten Sie für wichtiger: die Unsterblichkeit oder die Frauengeschichte?

Für mich ist es faszinierend, wie sehr der Buchautor Karel Capek die weibliche Hauptfigur hasst. Bei ihm ist sie ein Ungeheuer, aber Janáček liebt sie. Und so gibt es eine Spannung zwischen den beiden Textvorlagen. Wenn man nur die zu Grunde liegende Komödie liest, ist sie monströs und wird zerstört. In Janáčeks Libretto ist Emilia Marty ein unglaubliches Geschöpf, und man entwickelt irgendwie Sympathie für sie. Es ist eines der großartigsten Werke des Musiktheaters, und wir zeigen auch eine wirklich wunderbare, intelligente Inszenierung. Auf der Bühne sieht man die 1920er-Jahre, also die Entstehungszeit der Oper, aber Emilia hat ihren eigenen surrealen weißen Raum, in den sie zurückkehrt, um diese 300 Jahre alte Person zu sein. In den Raum kehren auch ihre anderen vergangenen Leben zurück.

Die Oper hat einen biografischen Hintergrund, denn der alte Janáček hatte sich in die 38 Jahre jüngere Kamilla Stösslova verliebt. Findet sie sich in der Hauptfigur Emilia Marty wieder?

Es geht bei Janáček immer um dieselbe Frau. Emilia ist Kamilla, Katja ist Kamilla, die Füchsin ist Kamilla, und sogar den Jungen im „Totenhaus“ hat er nach ihrem Vorbild geformt. Das alles geschah, weil Kamilla Stösslova so viele Jahre lang nein gesagt hat. Ihr verdanken wir die Kälte von Emilia, aber auch ihre Leidenschaft. Es gibt nicht viele Komponisten, die einen solch psychologischen Blick auf ihre Frauenfiguren haben, bei denen es immer die Frauen sind, die am stärksten, am lebendigsten sind. Janáček zelebriert das Leben, auch wenn Emilia Marty am Ende sagt, dass es nichts gibt, wofür es sich zu leben lohnt. Ich hatte eine lange Beziehung zu dem wunderbaren Komponisten und Dirigenten Berthold Goldschmidt und habe immer noch seinen letzten Brief, den er mir geschickt hat, als er 93 Jahre alt war. Darin schrieb er: Simon, wissen Sie, in diesem Alter und nicht mehr bei voller Kraft zu sein, das ist sehr schwierig, und das Leben ist plötzlich trist. Ich hätte nicht erwartet, dass ich bei dieser Oper so viel an Berthold denken würde.

Die Oper wird in tschechischer Sprache gesungen. Haben Sie die Sprache inzwischen erlernt?

Ich habe eine tschechische Familie, also höre ich die Sprache die ganze Zeit. Im Lockdown habe ich mit Duolingo angefangen. Ich kannte bereits ein paar Wörter, aber jetzt kenne ich viele mehr. Manchmal antworte ich der Familie etwas auf Tschechisch und sie staunen, weil ich sie verstanden habe. Ich sage dann: Ja, ihr müsst jetzt vorsichtig sein... Mein Lieblingssatz, den ich in Duolingo übersetzen musste, war ,Warum sucht ihr nicht nach diesen Bären?’ Ich frage mich, wann man je den Satz ,Warum sucht ihr nicht nach diesen Bären’ verwenden wird? Aber es ist interessant, denn das letzte Mal, als ich die Oper gemacht habe, das war mit Anja Silja im Jahr 2000, sprach ich überhaupt noch kein Tschechisch. Jetzt merke ich bei den Proben den Unterschied sehr.

Sie proben mit mehreren tschechischen beziehungsweise slawischen Sängern. Ist es für Janáček-Aufführungen in Originalsprache besser?

Die Besetzung ist eher ein Zufall. Mit den beiden Tenören hatten wir großes Glück, denn sie konnten einspringen. Einer der ursprünglich geplanten Sänger brach sich am Londoner Flughafen beide Beine, als er auf dem Weg zum ersten Probentag war. Jetzt haben wir zwei wunderbare Tschechen und natürlich Jan Martiník. Der arme Jan hat diese unmögliche Rolle des Dr. Kolenatý, der Advokat hat mehr Text zu singen als man sich vorstellen kann. Das ist selbst für einen Tschechen schwer.

Dirigenten und Regisseure können viel miteinander reden oder sich aus dem Wege gehen. Wie verliefen Ihre Gespräche mit Regisseur Claus Guth?

Als ich ankam, hatte Claus Covid. Eigentlich waren wir in der vergangenen Woche zum ersten Mal seit Beginn der Probenzeit alle zusammen im selben Raum. Die Probenzeit war also wirklich etwas Besonderes. Ich hatte vorher noch nicht mit Claus gearbeitet, aber ich habe ihn immer bewundert. Interessanterweise gab es für uns beide nicht viel zu diskutieren. Gelegentlich musste ich darum bitten, dass Emilia nicht immer so kalt dargestellt wird. Manchmal mussten wir uns eher nach der Musik richten als nach dem Text. Claus ist sehr pragmatisch. Wenn es ein Problem gibt, löst er es. Ich glaube, für einen Regisseur ist dieses Stück ein Paradies, weil es so theatralisch ist.

Ihre letzte Staatsopern-Produktion mit Janáčeks „Jenufa“ war stark von der Pandemie beeinflusst, etwa bei den strengen Abstandsregeln. Wie ist es jetzt bei „Makropulos?

Gott sei Dank fast normal. Wir müssen vorsichtig sein, aber es gibt keinen großen Chor. Die Chorpartien, die oft aus dem Off gesungen werden, lässt Claus von allen männlichen Solisten singen. Es wirkt, als ob Emilia Marty ein weiblicher Ritter Blaubart ist und ihre Ehemänner hinter Türen verschließt. Ich weiß, dass die „Jenufa“ mit dem wunderbaren jungen Dirigenten Thomas Guggeis auf den Spielplan zurückkommt, aber es wird dann eine ganz andere Inszenierung sein, weil der Chor nicht mehr im Publikum platziert sein wird. Die Sänger müssen jetzt keinen Klopp-Abstand mehr einhalten. In Liverpool gab es im Supermarkt einen Pappaufsteller von Fußballtrainer Jürgen Klopp, der den Leuten zeigen sollte, wie viel Abstand sie halten müssen. Im Supermarkt sagten sie also, dass man einen Klopp-Abstand einhalten sollte. Zwei Meter wären perfekt.

Sie sind ein reisender Dirigent und waren gerade mit Ihrem London Symphony Orchestra unterwegs. Wie erleben Sie das Reisen in der gegenwärtigen Pandemiephase?

Wir haben unser Leben normalerweise immer drei Jahre im Voraus geplant. Jetzt weiß man nicht einmal sicher, was nächste Woche passiert. Aber manchmal ist es gut so, man muss mehr improvisieren. Ich hoffe, dass ich im März nach London fahre. Und ich hoffe, dass wir auf Tournee nach Kalifornien gehen. Wir sind dankbar für alles, was stattfinden kann. Viele von uns haben das Gefühl, dass wir vielleicht langsam die Kurve kriegen. Ich klopfe auf Holz.

Gerade haben Sie das Bundesverdienstkreuz von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier erhalten. Beiläufig haben Sie erzählt, dass Sie sich daheim am Schlachtensee kaum bewegen können, weil viele Sie erkennen und ansprechen. Sind Sie für die Leute immer noch der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker?

Ja, absolut. George W. Bush wird auch immer noch Mr. President genannt. Meine 16 Jahre bei den Philharmonikern waren eine schöne und lange Zeit. Irgendwie bleibt man in den Köpfen der Leute. Und Berlin ist und bleibt meine Heimat. Es ist eine ganz besondere Stadt. Über unser Leben am Schlachtensee kann ich nur sagen: Wenn man in der Dämmerung hingeht, trifft man auf Wildschweine, aber wenn man am frühen Nachmittag hingeht, trifft man Abonnenten von allen Opernhäusern und Orchestern. Es ist doch keine Frage, dass ich lieber früher hingehe.