Nach wenigen Minuten geht es in der Volksbühne bereits um das Nebengleis des Kapitalismus. Allein dafür, dass ein Regisseur in einer Brecht-Adaption in Berlin im Jahr 2021 das Wort Kapitalismus zulässt, möchte man ihn knuddeln. Was René Pollesch bestimmt nicht will – erstens wegen Corona und überhaupt wegen der Distanz, die das heutige Theater zu Brechts Lehrstücken wahren will. Pollesch schüttet das Publikum auf raffinierte und charmante Weise mit Text und Assoziationen zu. Der in anderthalb Stunden vorgeführte Text würde für fünf Stunden Theater reichen. Es ist schon erleichternd zu sehen, dass sich selbst die Schauspieler gegen Ende hin an der Textfülle verschlucken. Die Souffleuse steht gleich mit auf der Bühne. „Herr Puntila und Das Riesending in Mitte“ ist ein wunderbarer Theaterabend.
Und es steckt mehr Bertolt Brecht drin, als es auf den ersten Blick scheint. Das zugrundeliegende Theaterstück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ von 1948 ist klarer sortiert. Gutsbesitzer Puntila ist nüchtern ein Ausbeuter und betrunken ein Menschenfreund. Nüchtern will Puntila seine Tochter mit einem Aristokraten verheiraten; betrunken mit dem Knecht Matti. Am Ende wird erkannt, dass Arm und Reich nicht zusammen kommen können.
Ein grotesker Parforceritt durch den Zeitgeist
René Pollesch transformiert das Lehrstück in die Gegenwart, es ist ein grotesker Parforceritt durch den Zeitgeist und die Ästhetik der Überforderung funktioniert. In der Uraufführung an der Volksbühne tritt jetzt kein böser Kapitalist auf, weder nüchtern noch betrunken. Und das Riesending in Mitte ist die Volksbühne selbst. „Voll die Angebernummer“, wie zu erfahren ist. Und Mitte ist das allerschlimmste, also fast so schlimm wie die Oper, die immer wieder gebasht wird. Bühnenbildnerin Nina von Mechow hat eine Volksbühnen-Fassade auf die Bühne gestellt. Wenn die Drehbühne angeworfen wirft, gibt sie ein großes Nichts dahinter preis. Darin offenbart sich eine anarchische Spiellust, die überhaupt keinen Klassiker im Blick hat.
Zu Beginn kommt dennoch die Puntila-Knecht-Dynamik ins Spiel. Franz Beil gibt den Hausherrn oben am Fenster, unten klingelt Astrid Meyerfeldt. Sie will teilhaben. Sie will ein echtes Lehrstück. Er lässt sie nicht rein. Normalerweise hat das Opern- und Theaterpublikum schon Probleme, die Rollen und Darsteller zuzuordnen. Das ist an diesem Abend kein Problem: Auf Tabea Brauns Kostümen stehen die Namen drauf. Die Darsteller sind die Litfaßsäulen ihrer selbst, es ist eine Verdinglichung der Menschen. „Ihr emblematisches Kleidchen“ nennt es eine Schauspielerin. Das Wort müssen wir wohl alle nachschlagen. Später wird die Gesellschaftskritik in sperrigen Theorien ausgebreitet.
Es geht um die moderne Ausgrenzung in der Gesellschaft
Aber noch geht es um Stimmungen, Schlagsätze werden eingeführt. Das ,Draußen vor der Tür’ bezieht sich weniger auf Wolfgang Borcherts Nachkriegsdrama, sondern mehr auf die moderne Ausgrenzung. Bei Pollesch geht es nicht ums Oben und Unten, sondern ums Drinnen und Draußen. „Nur die Gewinner haben Illusionen, die Verlierer können sie sich nicht leisten.“ Die Utopie fällt aus, es geht um Arbeitsteilung, um Globalisierung, ums Wohnen oder auch die Räumung von linken Besetzern.
„Die kann ja gar nicht sprechen“ ist ein Running Gag. Hier offenbart sich der Theatersprech als das schlimmste ausgrenzende Urteil überhaupt. Denn wer nicht sprechen kann, der kann in der Gesellschaft nicht mitspielen. Das großartige Darsteller-Quartett, Christine Groß und Inga Busch stoßen schnell hinzu, führt vor, dass nur derjenige dazu gehört, der die Sprachregeln kennt. Immer wieder kommt es zu Empörung und Erschrecken und zu wechselnden Allianzen gegen den Dritten. Wer fühlt sich da nicht an die sozialen Medien erinnert.
Amerikanische Computer-Spezialisten unterstützen Mönche in Tibet
Auf der Bühne erscheint ein Chor der Soufflierenden, bei Brecht das Konzept antiindividualistischer Kollektive, bei Pollesch sind es fast schreiende dogmatische Einflüsterer. Die Schauspieler lehnen sich gegen diese anonyme öffentliche Meinung auf, die einem vorgibt, was man zu sagen hat. Es sollte schon etwas diskreter sein, sagt Franz Beil.
In der finalen Episode geht es um amerikanische Computer-Spezialisten, die Mönchen in Tibet bei einem Glaubensproblem helfen wollen. Wer Genaueres darüber wissen will, sollte sich eine Vorstellung ansehen. Was zu empfehlen ist. Darsteller und Regisseur wurden am Ende der Premiere bejubelt.