Zu Beginn erstmal ein Lied, gemeinsam gesungen am vorderen Bühnenrand: „Ich bete an die Macht der Liebe“. Ein schöner Choral ist das, und es könnte ja auch wirklich alles ganz wunderbar sein: Ein junges Paar, ein tolles Haus am Berliner Stadtrand, Blick auf den Müggelsee inklusive. Eltern sind Johannes und Käthe Vockerat auch gerade geworden, Sohn Philipp ist erst wenige Wochen alt. Gerade wird er getauft. Deshalb der Choral. So richtig bei der Sache ist hier allerdings niemand: Johannes, der junge Vater, schielt aufs Smartphone, bis ihm Käthe, die Mutter, die Taufkerze in die Hand drückt, weil’s ihr gerade eng um die Brust wird. Käthes angereiste Schwiegermutter Eva kümmert sich derweil um das Baby und die Freundin der Familie, Künstlerin Sophie, zupft sich für gleich schon mal eine Zigarette aus dem Etui. Der Choral klingt trotzdem noch ganz schön, aber die Harmonie täuscht, die Dissonanzen sind schon da und sie werden noch tragische Ausmaße annehmen. In Daniela Löffners Adaption von Gerhart Hauptmanns Familien-Drama „Einsame Menschen“ gilt bereits in Szene eins: Hier macht jeder seins. Zur Macht der Liebe kommen wir später noch zurück.
Das Stück schrieb Gerhart Hauptmann vor genau 130 Jahren, 1891 wurde es uraufgeführt. Das ist lange her, da muss man ein bisschen ran. Das ist Daniela Löffner sehr gut gelungen, sie hat eine zeitgemäße Textfassung erarbeitet, sie hat die Frömmelei der Elterngeneration abgeschwächt und ein paar Wissenschaftsdiskurse der damaligen Zeit gestrichen. Was sich hier zuträgt, bleibt inhaltlich nah bei Hauptmann, sitzt aber jetzt felsenfest in der Gegenwart. Johannes ist ein Bestsellerautor in der Schaffenskrise, die finanzielle Lage der Familie wird langsam ein bisschen prekär, Malerin Sophie sucht auch noch nach dem ganz großen Wurf und wird derweil von ihren Eltern unterstützt. Käthe hadert derweil mit ihrer Mutterrolle und steckt mitten in einer postnatalen Depression. Das Refugium draußen im Grünen ist das klassische Sehnsuchts-Idyll und nach wie vor ziemlich beliebt in bestimmten Berliner Kreisen.
Zwischen Verantwortung und Aufbruchssehnsucht
Was Daniela Löffner in diesem Setting zeigt, sind Beziehungen unter Druck, Menschen im Bermuda-Dreieck von Verantwortung, Selbstverwirklichung und Aufbruchssehnsucht. In diese emotionale Gemengelage nun knallt als Katalysator ein zusätzlicher Gast: Arno Mahr. Sophie hatte ihn vor ein paar Jahren in Paris kennengelernt. Ein erst 26-jähriger Professor für „feministische Zukunftsforschung“, der sich gerade eine Auszeit nimmt. Eloquent, weltgewandt, modern, „ein ganz interessanter Typ“, wie Johannes zu Beginn feststellt. Und eben das: ein Typ, ein Mann also.
Bei Gerhart Hauptmann war dieser Arno eine Anna, die den sich intellektuell in seiner Familie unverstanden fühlenden Johannes in ihren Bann zog. Daniela Löffner nun macht daraus eine homoerotische Liebesgeschichte. Wobei der Umstand, dass er sich in einen Mann verliebt, für Johannes selbst angenehm nebensächlich ist. Das viel größere Beben löst bei ihm der riesengroße Wumms der Gefühle aus, die er bei diesem Menschen spürt und die plötzlich die Möglichkeit jenes Aus- und Aufbruchs eröffnen, nach dem er sich lange sehnte. Diesen Wumms will Daniela Löffner spürbar machen: In einer sehr langen und sehr expliziten Liebesszene zwischen den Männern, in der die beiden nackt balgend, tanzend und küssend durch das von Wolfgang Menardi reduziert modern gestaltete Haus am See toben. Sieht man in dieser Ausführlichkeit tatsächlich selten im Theater. Mindestens 15 Minuten hat das gedauert und es war vielleicht ein bisschen lang und kam ein bisschen plötzlich, hat seine Wirkung aber nicht verfehlt. Wie sich hier das Begehren Bahn bricht, wie das Leben mit Macht zurückkehrt in diesen zugeknöpften, bislang eher abweisenden Johannes, mit welcher Intensität alles ins Wanken gerät, man kann es nach- und mitfühlen.
Das Haus löst sich langsam auf
Was vor allem auch an den exzellenten Schauspielerinnen und Schauspielern lag, die diesem zu Beginn noch etwas gemächlich wirkendem dreistündigen Abend echten Glanz verleihen. Marcel Kohlers leicht verspannter und egozentrischer Johannes und Enno Trebs’ sonnig-sympathischer und kluger Arno geben ein glaubwürdiges Paar ab. Herausragend auch Linn Reusse als immer zittriger und unsicherer werdende Käthe. Für Worte der Vernunft ist Schwiegermutter Eva (Judith Hofmann) zuständig und für die bissigen Kommentare Künstlerfreundin Sophie (Franziska Machens).
Parallel zu den immer brüchiger werdenden Beziehungen löst sich nach und nach auch das Haus am See auf, Wasser flutet ein Waschbecken und läuft effektvoll eine schmale Treppe herunter, von der Decke und an den Bühnenrändern sprüht es feucht herunter. Das ist ein bisschen überflüssig. Es ist eh sehr offensichtlich: Baden gehen werden hier alle und manche sogar untergehen, die Macht der Liebe kann auch ziemlich zerstörerisch sein.
Deutsches Theater (Kammerspiele), Schumannstr. 13a, Kartentelefon 28 441 225. Nächste Termine: 3.11., 11.11., 25.11.