Berlin. Eine Bocksjagd durch die Gegenwart: Lars Eidinger und John Bock holen Henrik Ibsens „Peer Gynt“ in die Gegenwart.

Auf der Internetseite der Schaubühne konnte man sich vorab ein Video ansehen. Lars Eidinger blickt darin frontal und ausdruckslos in die Kamera, sein kalkweiß geschminktes Gesicht verschwimmt mit dem des darauf projizierten Theologen Eugen Drewermann. Dieser referiert eine seiner psychoanalytisch inspirierten, hellsichtigen Textauslegungen: Es geht um Peer Gynt, den großen Geschichtenerzähler und Lügner, um seine Sucht nach Liebe und seinen Drang nach Freiheit, um seine Mutter natürlich und das ständige Pendeln zwischen Nähe und Flucht. Die Botschaft drängt sich geradezu auf: Es geht hier auch um den prekären Status des Künstlers, um die Einsamkeit des Schauspielers auf offener Bühne, vor schweigenden, im schlimmsten Fall missgünstigen Zuschauern.

Eidinger hat nun Henrik Ibsens 1876 uraufgeführtes Drama zusammen mit dem Video- und Performancekünstler John Bock inszeniert, und von Anfang an verschränkt sich klassisches Sinnstiftungstheater mit symbolischer Artistik. Dem Zuschauer wird kein Programmheft, sondern eine knallgrüne Pappbanderole überreicht, in der sich eine lustig bedruckte Unterhose befindet: Auf der Rückseite blickt uns ein Totenmaskengesicht entgegen, vorn sehen wir eine Art künstlichen Darmausgang. Während das Publikum die Plätze einnimmt, kann es Eidinger dabei zusehen, wie er sich das Gesicht zum Totenkopf und die Lippen blutrot schminkt; wenn er die Zähne zeigt, werden goldene HipHop-Grills erkennbar. Dann trägt er Bertolt Brechts Gedicht „Der Theaterkommunist“ vor, es wird dunkel.

Eine Mitarbeiterin der Schaubühne tritt auf und sagt, Ansagen wie diese seien ja immer ein schlechtes Zeichen. So auch heute: Lars Eidinger habe sich bei den Proben „einen Finger abgeschnitten“ und sei deshalb am Nachmittag bereits in der Charité gewesen, er könne jetzt auftreten, aber nur unter dem Einfluss starker Schmerzmittel.

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Lars Eidinger in "Peer Gynt" an der Schaubühne: Wildes Chaos am Kuscheltier

Mancher Rezensent mag da den plötzlichen Drang empfinden, seine Redaktion zu informieren. Dass die Ansage Teil der Inszenierung ist, wird aber ziemlich schnell jedem klar. Die Bühne ist eine gigantische John-Bock-Installation: In ihrer Mitte liegt ein riesiges buntes Patchwork-Kuscheltier, aus dem allerlei wulstige Schläuche hängen, vielleicht ein ruhender Elefant, es lässt sich nicht genau sagen. Um ihn herum sind eine Art Melkmaschine und allerlei sonstige Gerätschaften aufgestellt, darunter, wie sich später herausstellen wird, eine ausrollbare Green-Screen-Leinwand oder eine überdimensionale Kotwurst aus Strick. Der angeblich unter Betäubungsmitteln stehende Eidinger betritt also die Bühne und ist bizarr kostümiert: Auf den Schultern trägt er einen umgedrehten Stuhl, auf den eine Art Geweih aus Alufolie montiert ist, dazu ein fast freier Oberkörper, Strapse und Unterhose. Dann beginnt er, man will es kaum glauben, tatsächlich die gebundene Sprache Ibsens zu deklamieren.

Dessen „Peer Gynt“ beginnt bekanntlich damit, dass der Titelheld von einer wilden Bocksjagd durchs norwegische Gebirge fantasiert, um seine Mutter zu beeindrucken. Es ist der Auftakt zu einer Odyssee quer durch Zeiten, Gegenden und Mythen, die heute noch anarchische Kraft verströmt und sich im Umfeld ihrer historischen Entstehung fast wie Punk ausnimmt. „Peer Gynt“ ist eine einzige, eruptive Entladung dramatischer Energie – weswegen die später hinzugezuckerte, nationalromantische Musik Edvard Griegs auch immer die falsche Tonspur für dieses Drama war. Nicht zufällig landete ihr bekanntestes Thema später in einer deutschen Fernsehreklame für Orangensaft, familiäre Frühstücksidylle inklusive.

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Ibsen hätte an diesem Abend seine Freude gehabt

Eidinger und Bock wissen das alles natürlich. Später wird Eidinger die Melodie auch kurz einmal ironisch ins Publikum dirigieren. Aber vorher ist er mit allen möglichen anderen Dingen beschäftigt, die zwar nicht immer dem Text des Dramas, wohl aber seiner unberechenbaren Kraft treu bleiben: Eidinger singt Popsongs der Ibsen-Landleute von A-ha; er wird vor dem Green-Screen zum Mitspieler in einem Lesbenporno; er schaufelt Nahrung in sich hinein, er säuft Milch, Bier und Cola; er grinst in die Bühnenkamera und wird auf der Leinwand als gewaltige Fratze sichtbar; er zertritt Eierschalen und erzählt von seiner Mutter, die in ihren Nachtschichten als Krankenschwester Playmobilfiguren für ihn bemalte.

Am Ende schlüpft er in die riesige Kuscheltierskulptur und wird von ihr im grünen Anzug wiedergeboren. Es ist nach „Hamlet“ und „Richard III.“ die dritte Berliner Inszenierung mit Lars Eidinger, die man gesehen haben muss – wenn man denn an eine der begehrten Karten kommt. Zartes folgt hier auf Gewalttätiges und Hochkomisches auf gewollt Banales. Die zweieinhalb Stunden haben die Kraft eines intensiven Traums, sie sind fast durchweg spannend, irritierend, lustig oder all dies zugleich. Henrik Ibsen hätte wohl auch seine Freude daran gehabt.

Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153, Charlottenburg. Kartentel.: 890 023. Nächste Vorstellungen: 15.2. und 16.2., 20 Uhr. Alle weiteren Informationen zu Vorstellungen und Tickets für "Peer Gynt" mit Lars Eidinger auf den Seiten der Schaubühne.