Berlin . In einem knappen Monat, ab dem 24. Januar, wird auf dem Bezahlsender Sky die dritte Staffel der Serie „Babylon Berlin“ gezeigt, die im Berlin der Weimarer Republik spielt und auf den Romanen Volker Kutschers basiert. Mit einem Budget von knapp 40 Millionen Euro waren bereits die ersten beiden Staffeln die bislang teuerste Produktion der deutschen Fernsehgeschichte, die nur durch den Schulterschluss öffentlich-rechtlicher und privater Akteure möglich wurde. „Babylon Berlin“ fand nicht nur beim Publikum großen Anklang und wurde mit zahlreichen Auszeichnungen überhäuft. Es lieferte auch den Nachweis, welch große Faszinationskraft von den 1920er-Jahren ausgeht.
Wer sich mit der deutschen Geschichte befasst, kommt nicht darum herum, im heutigen Blick auf die „Goldenen Zwanziger“ auch ein gehöriges Maß an Romantisierung zu erkennen. Es ist schon falsch, den Begriff auf das gesamte Jahrzehnt anzuwenden, denn an der Zeit vom Kriegsende 1918 bis zum Jahr 1924 war so gut wie gar nichts „golden“, vor allem nicht in Berlin.
Politische Demütigung und soziales Elend
Die Gegenwart in der Hauptstadt war durch die Krieg und seine Folgen bestimmt. Den Vertrag von Versailles, der Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung am Krieg zuschrieb, die mit ihm verbundenen Reparationszahlungen und Gebietsverluste empfanden viele als schwere Zumutung. Schwerer für das alltägliche Leben in der Hauptstadt aber wog die Allgegenwart von Armut, Arbeitslosigkeit und Existenzangst. Bettelnde Kriegsinvaliden saßen an den Straßenecken, die Säuglingssterblichkeit erreichte traurige Rekordwerte, Epidemien und Krankheiten machten die Runde. Vor diesem Hintergrund war auf der Straße eine politische Radikalisierung zu beobachten, die in der Ermordung des jüdischen Außenministers Walther Rathenau durch Mitglieder der rechtsextremistischen „Organisation Consul“ am 24. Juni 1922 ein noch heute erschütterndes Fanal fand. Diese Jahre vor allem sind es, die man im Blick behalten muss, wenn man unsere heutige Zeit mit der damaligen vergleicht.
Historiker sprechen für die Jahre danach, für den Zeitabschnitt etwa zwischen 1924 und 1929, gern von einer „relativen Stabilisierung“. Die grassierende Inflation wurde durch die Einführung der Rentenmark gestoppt und die drakonischen Bestimmungen des Versailler Vertrages gelockert. Entscheidender aber war der Aufschwung der weltweiten Konjunktur, wovon auch Deutschland profitierte. Es kommt nicht von ungefähr, dass es für die „Goldenen Zwanziger“ vergleichbare Formulierungen auch in anderen Sprachen gibt, dass die Amerikaner und Briten von den „roaring twenties“, die Franzosen von den „années folles“ und die Italiener von den „anni ruggenti“ sprechen.
In Berlin nahm sich diese Zeit vor dem Hintergrund der eben noch erlittenen Not besonders hedonistisch, wild und verwegen aus. Die einmalige Explosion kreativer Energie und das wüst zelebrierte Nachtleben speisten sich aus dem Bewusstsein, noch einmal davongekommen zu sein – und aus der Befürchtung, dass es morgen schon wieder damit vorbei sein könnte. Überall in der Stadt schossen Vergnügungsetablissements aus dem Boden, Kinos wurden gegründet, die Kunst erfand sich selbst neu, auf der Bühne, auf der Leinwand, im zeitgenössischen Design, in der Musik und in der Architektur. In den Tanzstuben, Varietés und Ballsälen herrschte eine neue Freizügigkeit, wie überhaupt die öffentliche Beschäftigung mit Sexualität einen, nun ja, Höhepunkt fand. Bereits 1919 hatte der aus einer jüdischen Familie stammende Arzt Magnus Hirschfeld an der Beethovenstraße in Tiergarten sein „Institut für Sexualwissenschaft“, eröffnet, das weltweit erste und einzige seiner Art. Erst 1933 wurde es im Zuge der nationalsozialistischen Bücherverbrennungen geplündert und geschlossen.
Da waren die „Goldenen Zwanziger“, wie sie heute in der Rückschau gefeiert werden, längst Geschichte. Der New Yorker Börsencrash im Oktober 1929 und die sich anschließende Weltwirtschaftskrise führten zu sozialem Elend und einer politischen Radikalisierung an den Rändern, die der Nationalsozialismus als Massenbewegung am besten für sich zu nutzen verstand. Die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 beendete auch formal den „Tanz auf dem Vulkan“, den die Zeitgenossen so rauschhaft gefeiert hatten. Sie setzte der kulturellen Vielfalt, wie man sie in Berlin am besten beobachten konnte, ein rabiates Ende. Der Antisemitismus als Staatsdoktrin, gipfelnd in der Entrechtung und Ermordung jüdischer Mitbürger, verstümmelte den Charakter der Stadt.
Angesichts der Erfolge der rechtspopulistischen, in Teilen rechtsextremen „Alternative für Deutschland“ in deutschen Parlamenten, auch im Hinblick auf eine sich zuspitzende politische Spaltung des Landes, ist in den letzten Jahren oft der Vergleich zu Weimarer Republik, zu den 20er-Jahren bemüht worden – der sich gerade vor dem Wechsel von 2019 auf 2020 besonders aufzudrängen scheint. Wer historisch redlich sein will, muss die Unterschiede betonen: Die Bundesrepublik des Jahres 2019 ist keine instabile Nachkriegsgesellschaft mit mangelnder Akzeptanz für Demokratie, sie blickt auf einen historisch einmaligen Zeitraum von 75 Jahren des Friedens und politischer Stabilität zurück. Auch ist sie mit ihren Mechanismen sozialer Absicherung weit von den Absturzgefahren der damals Lebenden entfernt. Das klingt gut, aber der Historiker sollte auch wissen, dass so etwas keine Selbstverständlichkeit ist, dass man dafür täglich kämpfen muss.
Auch die heute wieder wohltuend vielfältige Berliner Kultur steht vor gewaltigen Herausforderungen, ganz anderen freilich als vor 100 Jahren. Die explodierenden Lebenshaltungskosten der Stadt bedrohen ihr eigentliches kulturelles Kapital, die freie Szene und ihre kreative Entfaltung. Sie verdient Schutz und Förderung, und ob die Politik dafür die richtigen Mittel gefunden hat, wird vielleicht schon im kommenden Jahr abzusehen sein.
Bis dahin sollte besser nicht von einer Wiederkehr der „Goldenen Zwanziger“ gesprochen werden.