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„Die Wache“: Wenn ein Zeuge zum Verdächtigen wird

| Lesedauer: 4 Minuten
Barbara Schweizerhof
Wieder und wieder verhört Kommissar Buron (Benoît Poelvoorde) den Zeugen Louis (Grégoire Ludig).

Wieder und wieder verhört Kommissar Buron (Benoît Poelvoorde) den Zeugen Louis (Grégoire Ludig).

Foto: Little Dream Pictures

„Die Wache“ mit Benoît Poelvoorde ist ein herrliches Kinovergnügen aus Frankreich, bei dem man nicht mal dem Bügeleisen trauen kann.

Warum ist der Außerirdische in „E.T.“ braun? Warum verliebt sich das Paar in „Love Story“ und warum waschen sich die Mörder im „Kettensägenmassaker“ nie die Hände? Die enttäuschende Antwort: Es gibt keinen Grund dafür. Das behauptet zumindest der cinephile Polizist, mit dem Quentin Dupieux seinen bislang bekanntesten Film „Rubber“ einleitete.

Auch wenn die Fragen nicht sehr schlau gestellt sind und noch nicht mal großen Kinosachverstand verraten, treffen sie doch eine Sache im Kern: In jedem Film, in jeder Erzählung gibt es Unerklärtes, Unlogisches. Während die meisten das einfach hinnehmen und darüber hinwegsehen, hat der französische Regisseur Dupieux es quasi zu seiner Aufgabe gemacht, aus solchen „Fallstricken“ seine Filme zu entwickeln.

So ist der Titelheld von „Rubber“ ein serienkillender Autoreifen, der einer Fahrerin hinterherlüstert. In seinem neuesten Film „Wildleder“, für den er dieses Jahr in Cannes bejubelt wurde, verführt eine Lederjacke ihren Träger dazu, sich dem Verbrecherleben zuzuwenden.

Eine banale Zeugenverhörung ufert aus

Die Handlung von „Die Wache“, der nun als erster Dupieux-Film regulär bei uns ins Kino kommt, liest sich dagegen geradezu gewöhnlich: Ein Mann findet eine Leiche vor seiner Haustür, meldet es der Polizei – und wird anschließend verhört.

Aber man darf sich nicht täuschen lassen: Auch in „Die Wache“ lauert der Wahnsinn hinter jeder Wendung, die der Plot nimmt. Da wäre gleich die erste Szene. Man sieht einen Mann, der nichts trägt außer einer roten Unterhose und trotzdem stolz ein Freiluft-Orchester dirigiert. Am Horizont tauchen Polizisten auf, die es auf den Dirigenten abgesehen haben. Der lässt prompt die Stäbe fallen und rennt davon. Warum? Es gibt keinen Grund dafür. Das ist nur einfach die Einleitung.

Spazieren gehen in Erinnerungen

Im Folgenden dreht sich alles um den Verdächtigen Louis Fugain (Grégoire Ludig) und den Mann, der ihn verhört, Kommissar Buron (Benoît Poelvoorde). Sie sitzen im grellen Neonlicht eines fensterlosen Großraumbüros. Alles scheint so, wie man es kennt aus anderen Polizeifilmen: die verbrauchte Atmosphäre, die angespannte Erschöpfung des Verdächtigen, der demonstrative Überdruss des Verhörenden und immer wieder reinschneiende Kollegen, die mal mehr, mal weniger Wichtiges zu vermelden haben. Man hat einen Zeh gefunden, 20 Kilometer vom Haus entfernt, vor dem Fugain die Leiche fand – gibt es einen Zusammenhang? Buron winkt ab. Er beißt sich an anderen Kleinigkeiten fest: Wie oft hat Fugain in jener Nacht das Haus verlassen? Und warum?

Sie gehen alles noch mal gemeinsam durch – was Dupieux schließlich so inszeniert, dass die beiden Männer tatsächlich Seite an Seite durch Fugains Erinnerungen spazieren. Aber so sehr Buron es auch dreht und wendet, sie bleiben eine Aneinanderreihung von banalen Alltäglichkeiten wie: „Ich fand eine Kakerlake und ging in den Laden, um ein Vergiftungsmittel zu kaufen, es gab aber nur Insektenspray“.

Gekonntes Spiel mit den Erwartungen

Mit der Leiche, die er bei seinem siebten (!) Gang zur Straße fand, hat Fugain nichts zu tun, beteuert er. Aber zu dem Zeitpunkt wurde man als Zuschauer bereits Zeuge eines bizarren Todesfalls, an dem Fugain zwar auch keine aktive Schuld hatte, durch dessen gekonnter Vertuschung er aber weit weniger harmlos scheint, als er sich darstellt.

Dupieux’ Art, mit den Elementen des Genres und den Erwartungen der Zuschauer zu spielen, unterscheidet sich von üblichen Parodien durch eine entscheidende Dosis an Originalität. Er verlässt sich nicht auf den karikaturhaften Witz seiner Figuren – beide Darsteller verleihen im Übrigen ihren Charakteren durch gekonnte Zurückhaltung eine gewisse Glaubwürdigkeit –, sondern lässt Absurdität unmittelbar aus dem Banalen entstehen. Am Ende misstraut man sogar dem Bügeleisen, das Fugain neben der Leiche vergaß. Und dann kommt es noch mal ganz anders.

„Die Wache“: der Trailer zum Film

Komödie F 2019 73 min., von Quentin Dupieux, mit Benoît Poelvoorde, Grégoire Ludig, Marc Fraize