Grandios: Mathias Schönsee inszeniert am Kleinen Theater Franz Werfels Novelle „Eine blassblaue Frauenhandschrift“

Blassblau liegt der Brief auf dem Frühstückstisch. Und bringt Amelie innerlich fast um. Sie ahnt, dass es sich dabei nicht um eine Gratulation zum 50. Geburtstags ihres Mannes Leonidas handelt, sondern um das Schreiben einer anderen Frau. Vera Wormser, eine „israelitische Intellektuelle“, wie Leonidas sie insgeheim nennt. Als er ihre Handschrift sieht, überwältigen ihn Erinnerungen und Schuld. Vor 18 Jahren hatte er eine Affäre mit ihr. Für ihn bedeuten diese sechs Wochen immer noch die wahre Ehe seines Lebens. Damals war er ein Jahr mit Millionenerbin Amelie verheiratet, wollte sich scheiden lassen. Doch er verließ Vera. Für ein scheinbar perfektes Leben im Luxus. Und im Bewusstsein, dass da womöglich ein Kind wäre. Nun spricht Vera in ihrem Brief von einem Jungen.

Franz Werfel, der österreichische Schriftsteller jüdischer Herkunft, schrieb seine 1941 veröffentlichte Novelle „Eine blassblaue Frauenschrift“ im Exil. Nun hat Regisseur Mathias Schönsee die Erzählung auf kluge Weise für die Bühne adaptiert und inszeniert. Bei der gefeierten Uraufführung im Kleinen Theater ist ein grandioses Drama zu sehen, das die Vielschichtigkeit der Vorlage bildstark umsetzt.

Eine Entscheidung für das Geld

Die Geschichte spielt 1936 an einem einzigen Tag. Österreichs Anschluss an das Deutsche Reich wirft schon seine Schatten voraus, in Wien ist der Antisemitismus salonfähig. Die Inszenierung historisiert nicht sondern ist zeitlos. Wie das Psychogramm des selbstsüchtigen Karrieristen Leonidas. Und die antisemitischen Tendenzen haben durchaus aktuelle Bezüge.

Christoph Schüchner gibt den Emporkömmling Leonidas. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend, hat er es zum mächtigen Sektionschef im Wiener Ministerium für Kultus und Unterricht gebracht, wie Dominik Raneburger als Erzähler resümiert. Später schlüpft er noch in die Rolle des Ministerialsekretärs Lang. Der Untergebene von Leonidas, der sich schon mal politisch opportun positioniert hat. Wie Leonidas eigentlich auch. Doch jetzt glaubt er, Vater eines jüdischen Sohnes zu sein. Er will seiner Frau alles gestehen. Den Seitensprung, den Sohn. Und die Konsequenzen ziehen. Doch Amelie (Saskia von Winterfeld) kommt ihm mit einer überraschenden Beichte zuvor.

Ein Riss geht durch Leonidas

Gefangen in Konventionen und an seiner Schuld verzweifelnd, tobt in Leonidas ein Sturm. Er könnte sein oberflächliches, glückloses Leben aufgeben. Bei Vera sein. Sandbilder auf einem durchsichtigen Screen skizzieren in Szenen und Rückblenden die Geschichte von ihr und ihm. Kehren sein Innerstes nach außen. Das gleicht einem Escher-Labyrinth ohne Ausweg. Gemalt werden die flüchtigen Impressionen live von Hannah Ley, die auch Vera spielt. Bei einem Treffen mit Leonidas ist sie kühl und souverän, er hingegen unbeholfen. Zerrissen zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge.

Ein großartiger Theaterabend, der den raffiniert konstruierten Plot nuanciert zum Leben erweckt.

Kleines Theater, Südwestkorso 64, Friedenau, Tel. 821 20 21. Nächste Aufführungen: 14., 28.9. um 20 Uhr, 15. 29.9. um 18 Uhr, Tickets 15 20 Euro.